VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 08.03.2019 - 9 K 6525/17.TR - asyl.net: M27394
https://www.asyl.net/rsdb/M27394
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Afghanen, der als Sicherheitskraft auf einer ISAF-Militärbasis gearbeitet hat:

1. Regierungsmitarbeitende und Personen, die mit internationalen Institutionen zusammenarbeiten, können generell einem abstrakt höheren Verfolgungsrisiko durch die Taliban ausgesetzt sein.

2. Zwar sind Sicherheitskräfte in Afghanistan regelmäßig einer besonderen Gefährdung ausgesetzt, diese ist indes abstrakt nicht groß genug, um bereits für alle in Betracht kommenden Personen die beachtliche Gefahr einer individuellen Verfolgung zu begründen oder eine landesweite Verfolgung anzunehmen. Das Risiko einer Verfolgung kann sich jedoch im Einzelfall verdichten.

3. In Afghanistan ist weder Schutz von staatlicher Seite zu erwarten, noch besteht bei individualisierter Vorverfolgung durch die Taliban eine inländische Fluchtalternative.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: ISAF, Taliban, Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, internationale Organisation, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Schutzfähigkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 des Asylgesetzes - AsylG - zu. [...]

Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln können Regierungsmitarbeiter und Personen, die mit internationalen Institutionen zusammengearbeitet haben, generell einem abstrakt erhöhten Risiko ausgesetzt sein (vgl. hierzu etwa VG Greifswald, Urteil vom 30. Juni 2016 - 3 A 379/16 -, juris; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 - UNHCR-Richtlinien -, S. 40 ff.).

Das Gericht geht dabei indes nicht davon aus, dass eine Verfolgung des Klägers sich bereits allein aus der Tatsache ergibt - an der das Gericht im Übrigen keinen Zweifel hat -, dass er bei einem privaten Sicherheitsdienst auf der Militärbasis "..." gearbeitet hat. Zwar sind Sicherheitskräfte in Afghanistan regelmäßig einer besonderen Gefährdung ausgesetzt, diese Gefährdung ist indes abstrakt nicht groß genug, um bereits für jede der hunderttausend in Frage kommenden Personen die beachtliche Gefahr einer individuellen Verfolgung zu begründen und vermag jedenfalls keine landesweite Verfolgung anzuzeigen.

Dieses Risiko hat sich jedoch im Falle des Klägers verdichtet und individualisiert. Denn die Tätigkeit des Klägers ist im Rahmen der von ihm geschilderten Ereignisse in Afghanistan zu berücksichtigen. Seine Arbeit auf der Basis erklärt insbesondere, wie der Kläger und sein Cousin ins Visier der (lokalen) Taliban in seiner Heimatprovinz geraten sind. Die individuelle Verfolgung des Klägers folgt dann aus einer Mehrzahl von Ereignissen, insbesondere der Weigerung, mit den Taliban zusammenzuarbeiten, und - in besonderem Maße - aus dem Umstand, dass der Cousin des Klägers einen Rekrutierer der Taliban respektlos zur Seite stieß. [...]

Die Islamische Republik Afghanistan ist nach der Auskunftslage auch nicht in der Lage, Schutz vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten. Die gewaltbereite Opposition, insbesondere Taliban, richten ihre Gewalt ohne Rücksicht auf Zivilisten sowohl gegen Staatsorgane, als auch Vertreter der internationalen Gemeinschaft. Wegen des nur sehr eingeschränkten Funktionierens der Verwaltung und der Justiz werden Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen verhindert (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht a.a.O., S. 5 f.). Für den Kläger besteht auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG. [...] Da das Gericht davon überzeugt ist, dass der Kläger individualisiert vorverfolgt ausgereist ist und die Taliban ein Interesse daran hätten, infolge der vermeintlichen "Übergriffe" des Klägers alle ihnen zur Verfügung stehenden Netzwerke einzusetzen, um den Kläger ausfindig zu machen, ist im vorliegenden Einzelfall von einer landesweiten Verfolgung auszugehen. Es kann daher offenbleiben, ob von dem Kläger auch vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in einem anderen Landesteil niederlässt. [...]