Erstreckung des Zweitantragsverfahrens auf Norwegen unionsrechtswidrig:
Die Erstreckung des Zweitantragsverfahrens gem. § 71a Abs. 1 AsylG auf Staaten, die - wie z.B. Norwegen - nicht der Europäischen Union angehören, verstößt voraussichtlich gegen Art. 33 Abs. 2 Bst. d Verfahrensrichtlinie. Denn hiernach muss sowohl der "frühere" als auch der "weitere" Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt worden sein, was auf Norwegen nicht zutrifft. Insofern ist eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 AsylG rechtswidrig.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
§ 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 AsylG bestimmt, dass ein Asylantrag u.a. auch dann unzulässig ist, wenn im Falle eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Ein Zweitantrag liegt gemäß § 71a Abs. 1 AsylG vor, wenn ein Antragsteller nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem Staat, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten, im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt. Wird ein Zweitantrag gestellt, ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen.
Zwar verstoßen §§ 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2, 71a Abs. 1 AsylG nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer grundsätzlich nicht gegen Unionsrecht (vgl. VG Minden, Beschluss vom 31. Juli 2017 - 10 L 109/17.A -, juris Rn. 17 ff. mit ausführlicher Begründung).
Jedoch bestehen ernstliche Zweifel, dass die Erstreckung des Zweitantragsverfahrens auf Staaten, die - wie Norwegen - nicht der Europäischen Union angehören, mit Unionsrecht in Einklang steht, so dass § 71a Abs. 1 AsylG unionsrechtskonform ein-schränkend auszulegen ist bzw. - soweit er gegen Unionsrecht verstößt - nicht angewandt werden darf.
1. § 71a Abs. 1 AsylG erstreckt das Zweitantragsverfahren ausweislich seines Wortlauts ("nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat") auch auf solche Staaten, die nicht der Europäischen Union angehören, für die aber Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit denen die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat. Die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren ist in der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31, sog. Dublin III-Verordnung) geregelt, diese Verordnung gilt auch für Norwegen (vgl. z.B. VG München, Beschluss vom 28. Februar 2018 - M 16 S 17.47946 -, juris Rn. 21; VG Lüneburg, Beschluss vom 15. November 2018 - 3 B 15/18 -, juris Rn. 36, Filzwieser/ Sprung, Dublin III-Verordnung, 1. Auflage 2014, II. (Dublin III-Verordnung), Erwägungsgründe, Rn. K 52 f.; Bergmann, ZAR 2015, 81, 82; Hruschka/Maiani, in: Hailbronner/Thym, EU Im-migration and Asylum Law, 2. Auflage 2016, Part D VI [Regulation (EU) No 604/2013], Art. 1, Rn. 6; Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, 1. Auflage 2018, Einführung, Rn. 57).
Dies soll sich aus dem Übereinkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft, der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Kriterien und Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat, in Island oder in Norwegen gestellten Asylantrags vom 19. Januar 2001 (ABl. L 93, S. 40) [...] und/oder entsprechenden Notifikationserklärungen [...] ergeben und ist - wie die Antwort der norwegischen Behörden vom 2019 auf das Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamts zeigt - gelebte Verwaltungspraxis.
2. Art. 33 Abs. 2 lit. d) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 60, sog. Verfahrensrichtlinie) bestimmt, dass die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten können, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. [...]
Bei einem Folgeantrag handelt es sich gemäß Art. 2 lit. q) RL 2013/32/EU um einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Art. 28 Abs. 1 RL 2013/32 EU abgelehnt hat. Dementsprechend setzt ein Folgean-trag voraus, dass zwei Anträge auf internationalen Schutz gestellt wurden, nämlich ein "früherer" und ein "weiterer" Antrag. Bei beiden Anträgen muss es sich um einen Antrag auf internationalen Schutz i.S.d. Art. 2 lit. b) RL 2013/32/EU handeln. Nach dieser Norm ist unter "Antrag auf internationalen Schutz" oder "Antrag" das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat (Hervorhebung durch das Gericht) zu verstehen, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt und der nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2011/95/EU ersucht.
Danach setzt Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU voraus, dass sowohl der "frühere" als auch der "weitere" Antrag in einem Mitgliedstaat gestellt wurden. Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor, weil der "frühere" Antrag in Norwegen gestellt wurde. [...]