OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 23.05.2019 - 1 Bf 337/18.AZ - asyl.net: M27410
https://www.asyl.net/rsdb/M27410
Leitsatz:

Rechtliches Gehör zu den maßgeblichen Erkenntnismitteln im Asylverfahren:

"1. Im asylrechtlichen Verfahren ist das Gericht verpflichtet, die Erkenntnismittel, auf die es seine Entscheidung zu stützen beabsichtigt, in einer Weise zu bezeichnen und in das Verfahren einzuführen, die es den Verfahrensbeteiligten ermöglicht, diese zur Kenntnis zu nehmen und sich zu ihnen zu äußern (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 18.12.2018, 1 Bf 145/17.AZ, juris Rn. 26, m.w.N.).

2. Die (entscheidungserhebliche) Verwertung von Erkenntnismitteln, die nicht ausdrücklich in das Verfahren eingeführt worden sind, verletzt den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör nicht schon für sich allein, wenn tatsächlich auf andere Weise, z.B. im Rahmen der mündlichen Verhandlung, hinreichend Gelegenheit bestand, zu den tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung Stellung zu nehmen. Rechtliches Gehör ist nicht zu den Erkenntnismitteln als solchen, sondern zu den darin enthaltenen tatsächlichen Angaben und Einschätzungen zu gewähren."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, Verwaltungsgericht, rechtliches Gehör, Erkenntnismittelliste, Erkenntnismittel,
Normen: GG Art. 103 Abs. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, AsylG § 78 Abs. 4 S. 4, VwGO § 108 Abs. 2, VwGO § 138 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Allerdings gebieten Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO, dass ein Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweismittel gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Nur bei einer Offenlegung der Erkenntnisquellen über die der Entscheidungsfindung zugrunde gelegten tatsächlichen Umstände wird den Beteiligten eine effektive Prozessführung ermöglicht und die Gelegenheit eröffnet, durch Vortrag und Anträge auf die Zusammensetzung des Quellenmaterials Einfluss zu nehmen. Hieraus folgt im gerichtlichen Asylverfahren grundsätzlich die Pflicht des Gerichts, die Erkenntnismittel, auf die es seine Entscheidung zu stützen beabsichtigt, in einer Weise zu bezeichnen und in das Verfahren einzuführen, die es den Verfahrensbeteiligten ermöglicht, diese zur Kenntnis zu nehmen und sich zu ihnen zu äußern (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 18.12.2018, 1 Bf 145/17.AZ, juris Rn. 26, m.w.N.).

Indes ist die förmliche Bezeichnung der Erkenntnismittel nicht Selbstzweck, sondern hat eine für die Gewährung rechtlichen Gehörs dienende Funktion. Die (entscheidungserhebliche) Verwertung von Erkenntnismitteln, die in einer übersandten Liste nicht aufgeführt und auch später nicht ausdrücklich in das Verfahren eingeführt worden sind, verletzt den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör daher nicht schon für sich allein, wenn tatsächlich auf andere Weise hinreichend Gelegenheit bestand, zu den tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung Stellung zu nehmen. Daraus folgt zugleich, dass nicht jeder "Fehler" (in) einer Erkenntnismittelliste oder jegliche Verwertung eines in einer Erkenntnismittelliste nicht aufgeführten Erkenntnismittels eine Verletzung des rechtlichen Gehörs indiziert. Denn rechtliches Gehör ist nicht zu den Erkenntnismitteln als solchen, sondern zu den darin enthaltenen tatsächlichen Angaben und Einschätzungen zu gewähren (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 30.5.1996, 12 L 2401/96, NVwZ 1996, Beilage Nr. 9, 67, juris Rn. 7; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Loseblatt, Stand: März 2019, § 78 Rn. 347).

Nach diesen Maßgaben liegt die von dem Kläger beanstandete Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht vor. Zutreffend ist zwar, dass das Verwaltungsgericht die in dem angefochtenen Urteil genannten Erkenntnisquellen, die es zum Beleg seiner Feststellung, die Partei Hizb-i Islami sei Teil der afghanischen Regierung (gewesen) und ihr radikaler Flügel habe ein Friedensabkommen mit der afghanischen Regierung abgeschlossen, nicht in das Verfahren eingeführt hat. Der Kläger hatte gleichwohl, anders als er in der Begründung seines Zulassungsantrags geltend macht, Gelegenheit, sich zu den vorstehend genannten Tatsachen zu äußern und ggf. hierauf gerichtete Prozesshandlungen vorzunehmen. Denn das Verwaltungsgericht hat den Kläger mit dem betreffenden Sachverhalt in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich konfrontiert. Ausweislich des Sitzungsprotokolls (dort S. 13 unten) hat es den Kläger darauf hingewiesen, "dass die Hezb-e-Islami inzwischen integraler Bestandteil der afghanischen Regierung sei und auch der ehemalige Anführer Hekmatyar ein Friedensabkommen mit dem Präsidenten Ghani abgeschlossen habe und dass nun sowohl die Hezb-e-Islami als auch die Jamiat Teil der afghanischen Regierung sei", und eine hieran anknüpfende Frage an den Kläger gerichtet. Der Kläger hat den Hinweis des Verwaltungsgerichts indes nicht zum Anlass genommen, den zur Kenntnis gebrachten Sachverhalt in Frage zu stellen, zu relativieren oder die in der Begründung des Zulassungsantrags genannten Beweisanträge zu stellen, obwohl ihm dies möglich gewesen wäre.

Dem kann nicht entgegen gehalten werden, die prozessualen Reaktionsmöglichkeiten des Klägers seien in der mündlichen Verhandlung deshalb gemindert gewesen, weil das Verwaltungsgericht nur auf die von ihm zugrunde gelegten Tatsachen, nicht aber auf die maßgeblichen Erkenntnisquellen hingewiesen habe. Selbst wenn Letzteres geboten gewesen wäre, könnte sich der Kläger auf eine Gehörsverletzung nicht mit Erfolg berufen, weil er es jedenfalls versäumt hat, sich in der mündlichen Verhandlung unter Einsatz der ihm nach der Prozessordnung zur Verfügung stehenden Mittel – etwa mittels eines Antrags auf genaue Bezeichnung der Erkenntnisquellen oder auf Unterbrechung der mündlichen Verhandlung – rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl. hierzu VGH Mannheim, Beschl. v. 20.8.2018, A 12 S 1364/18, DÖV 2019, 40 [Ls], juris Rn. 8, unter Bezugnahme auf OVG Hamburg, Beschl. v. 15.7.1993, Bs VII 93/93, juris Rn. 4, m.w.N.). [...]