VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 11.07.2019 - A 13 K 718/19 - asyl.net: M27431
https://www.asyl.net/rsdb/M27431
Leitsatz:

Familie droht bei Überstellung nach Schweden Obdachlosigkeit:

1. Es gibt Hinweise darauf, dass einem Familienverbund von drei Erwachsenen und fünf Kindern, deren Asylanträge dort abgelehnt wurden, Obdachlosigkeit droht, da es möglich erscheint, dass ihnen keine Unterkunft zu Verfügung gestellt wird, den erwachsenen Asylsuchenden Geldleistungen gekürzt werden und sie keiner Erwerbstätigkeit nachgehen dürfen. Diese Zweifel wiegen bei kleinen Kindern besonders schwer. Somit ist von systemischen Mängeln bezüglich der Aufnahmebedingungen in Schweden auszugehen.

2. Ob die Jawo-Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 Jawo gg. Deutschland - Asylmagazin 5/2019, S. 196 ff. - asyl.net: M27096) und eine Zusicherung Schwedens dem entgegenstehen, bedarf einer Klärung im Hauptsacheverfahren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Schweden, Dublinverfahren, Kind, Aufnahmebedingungen, Obdachlosigkeit, systemische Mängel,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 1 Bst. d, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 ,
Auszüge:

[...]

Nach summarischer Prüfung bestehen nach Auffassung des Gerichts ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltenen Abschiebungsanordnung. [...]

2.1. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, auf den das Bundesamt den angefochtenen Bescheid stützt, liegen nach summarischer Prüfung wohl nicht vor. Es bedarf dazu jedenfalls der Klärung rechtlicher und tatsächlicher Fragen im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens.

Ein Asylantrag ist gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG unzulässig, wenn ein anderer Staat als die Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe der Dublin III-VO zuständig ist. Zuständig für ein Asylbegehren ist unter anderem der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag bereits abgelehnt wurde (Art.18 Abs. 1 lit. d) Dublin III-VO).

Zuständig für das von den Antragstellerinnen beantragte Asylverfahren dürfte zwar grundsätzlich Schweden sein. Denn die Antragstellerinnen haben ausweislich des entsprechenden EURODAC-Treffers dort Asylanträge gestellt, die nach ihren Angaben und ausweislich der schwedischen Antwort auf das Wiederaufnahmegesuch abgelehnt worden sind.

2.2. Dieser Zuständigkeit steht jedoch voraussichtlich die Regelung des Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO entgegen.

Hiernach setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III Dublin III-VO vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC mit sich bringen. [...]

Der im Wesentlichen selbstreferentiellen jüngeren Rechtsprechung zu Dublin-Rückkehrern nach Schweden sind diesbezügliche Defizite zwar nicht zu entnehmen (vgl. VG Aachen, Beschluss vom 04.02.2019 - 3 L 1797/18.A -, juris und VG München, Beschluss vom 27.06.2018 - M 9 S 17.53492 -, juris für die Fallgruppe abgelehnter Asylantragsteller).

Gleichwohl haben die Antragstellerinnen unter Hinweis auf Erkenntnismittel glaubhaft gemacht, dass ihnen im Familienverbund von drei Erwachsenen und fünf Kindern im Alter von zwischen einem halben und zehn Jahren in Schweden die Obdachlosigkeit drohen kann. Denn zahlreiche Erkenntnismittel gehen davon aus und kritisieren, dass abgelehnten Asylantragstellern, die im Rahmen des Dublin-Systems nach Schweden zurückkehren und nicht freiwillig ausreisen, keine Unterkunft zur Verfügung gestellt wird, den erwachsenen Antragstellern Geldleistungen gekürzt werden und sie keiner Erwerbstätigkeit nachgehen dürfen (vgl. AIDA Country Report: Schweden - 2018 Update v. 31.12.2018, S. 34, 62, 65; ebenso USDOS Sweden 2018 Human Rights Report, S. 6; BFA Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Schweden v. 16.02.2018, S. 4 f.; Commissioner for Human Rights of the Council of Europe, Report v. 16.02.2018, Rn.16 f.). Diese Zweifel wiegen angesichts des jungen Alters der Kinder im Familienverbund der Antragstellerinnen aufgrund von deren besonderen Schutzbedürftigkeit besonders schwer. [...]

Ob den Antragstellerinnen in Anlehnung an die Jawo-Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 -- C-163/17 -, ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 92, 95) entgegengehalten werden kann, sie dürften sich in Schweden einer freiwilligen Ausreise nicht verweigern oder müssten zumindest einen Folgeantrag stellen, um drohender Obdachlosigkeit zu entgehen, bedarf einer dem Hauptsacheverfahren vorbehaltenen Erörterung. Dies gilt ebenso für die Frage, ob die (gekürzten) finanziellen Mittel der Antragstellerinnen ausreichen würden, um sich - notfalls mit Unterstützung von Kommunen und Nichtregierungsorganisationen - Obdach und Lebenshaltung zu finanzieren. In gleichem Maße dürfte dafür entscheidungserheblich sein, ob die schwedischen Behörden dem Bundesamt zugesichert haben oder zusichern werden, den Antragstellern im vorliegenden und den sachzusammenhängenden Verfahren Unterkunft zur Verfügung zu stellen, die nicht von deren Entscheidung, freiwillig aus Schweden auszureisen, abhängt. [...]