VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 30.04.2019 - 2 K 2814/17.A - asyl.net: M27446
https://www.asyl.net/rsdb/M27446
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen jungen homosexuellen Mann aus Afghanistan:

Homosexuelle Personen sind in Afghanistan gezwungen, ihre geschlechtliche Identität zu verbergen, weil sie andernfalls schwerwiegende menschenrechtswidrige Übergriffe auf ihre Person durch staatliche wie auch nichtstaatliche Akteure befürchten müssen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, homosexuell, Mann, Flüchtlingsanerkennung, nichtstaatliche Verfolgung, staatliche Verfolgung, Strafbarkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Der Kläger ist Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass er sich im Sinne dieser Bestimmung aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner sexuellen Orientierung außerhalb seines Herkunftslandes Afghanistan befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann. [...]

b) Die nach allem feststehende homosexuelle Orientierung des Klägers führt zur Gefahr landesweiter Verfolgung im Falle der Rückkehr nach Afghanistan. Ihm drohen dort anknüpfend an seine geschlechtliche Identität (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) landesweit Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG durch Akteure nach § 3c AsylG, ohne dass wirksamer Schutz vor Verfolgung (vgl. § 3d AsylG) gegeben wäre. Nach Überzeugung des Gerichts sind homosexuelle Personen wie der Kläger gezwungen, ihre geschlechtliche Identität zu verbergen, weil sie andernfalls schwerwiegende menschenrechtswidrige Übergriffe auf ihre Person durch staatliche wie auch nichtstaatliche Akteure befürchten müssen. Das Gericht kommt zu diesem Schluss aufgrund der ihm vorliegenden aktuellen Gutachten, Berichte und Auskünfte zur Situation homosexueller Personen in Afghanistan.

Nach den dem Gericht vorliegenden aktuellen Erkenntnissen sind einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen in Afghanistan illegal und können nach dem dort geltenden Strafgesetzbuch mit Haftstrafen bis zu zwei Jahren geahndet werden. Die Scharia sieht für gleichgeschlechtliche Beziehungen als Höchststrafe sogar die Todesstrafe vor, die allerdings seit dem Ende der Taliban-Herrschaft nicht mehr von der Justiz verhängt worden ist. Weiterhin wird Homosexualität in der afghanischen Gesellschaft in starkem Ausmaß tabuisiert. Berichten zufolge haben tatsächlich oder vermeintlich homosexuelle Männer und Jungen nur begrenzt Zugang zu medizinischer Versorgung und werden wegen ihrer sexuellen Orientierung von ihren Arbeitgebern entlassen. Personen mit unterschiedlichen sexuellen Ausrichtungen und Geschlechtsidentitäten werden nach vorliegenden Berichten Opfer von Diskriminierung und Gewalt, auch durch Behörden, Familienangehörige und Angehörige ihrer Gemeinschaften sowie durch regierungsfeindliche Kräfte. Homophobe Einstellungen und Gewalt gegen diese Gruppen sind in Afghanistan allgegenwärtig. Es wird berichtet, dass Personen mit unterschiedlichen sexuellen Ausrichtungen und Geschlechtsidentitäten von der Polizei nicht geschützt werden, im Gegenteil wird beschrieben, dass Polizisten gegen solche Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung mit Schikanen, Gewalt (einschließlich Vergewaltigung), Festnahme und Inhaftierung vorgehen. In von regierungsfeindlichen Gruppierungen kontrollierten Gebieten kann es zu parallelstaatlichen Prozessen und zur Ausführung der Todesstrafe kommen (zum Ganzen vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, S. 100 ff. m.w.N. in Fn. 565 bis Fn. 573; EASO, Country Guidance: Afghanistan (Stand: Juni 2018), S. 58; Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan (Stand Mai 2018), S. 16, 17; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan (Update), Gefährdungsprofile vom 12. September 2018, S. 12; ferner die vom Kläger vorgelegte Stellungnahme des Lesben- und Schwulenverbands Deutschland vom 23. April 2019 mit den dort zitierten Erkenntnisquellen).

Vor diesem Hintergrund ist die Furcht des Klägers vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen seiner Homosexualität im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet. Ihm drohen im Falle der Rückkehr im Sinne von § 3a AsylG diskriminierende Strafverfolgung oder die Anwendung von Gewalt, weil er einer Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zugehört, die den vorherrschenden rechtlichen, religiösen und gesellschaftlichen Normen seines Heimatlandes nicht entspricht. Von ihm kann nicht erwartet oder gar verlangt werden, dass er seine Homosexualität, die Teil seiner sexuellen Identität ist, in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr der Verfolgung zu vermeiden (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – C-199/12, C-200/12, C-201/12, NVwZ, 2014, 132). [...]