SG Düsseldorf

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Zitieren als:
SG Düsseldorf, Beschluss vom 15.07.2019 - S 22 AY 23/19 ER - asyl.net: M27467
https://www.asyl.net/rsdb/M27467
Leitsatz:

Vorläufige Gewährung angepasster (höherer) Asylbewerberleistungen nach § 3 Abs. 4 AsylbLG:

1. Für die Leistungserhöhung nach § 3 Abs. 4 AsylbLG braucht keine Bekanntgabe der angepassten Sätze durch das Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) abgewartet zu werden.

2. Ein auf Gewährung der angepassten Leistungen gerichteter Eilantrag ist begründet.  Ein Anordnungsgrund liegt auch für die isolierte Erhöhung der Leistungen vor.

(Leitsätze der Redaktion, unter Bezugnahme auf LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 23.05.2019 - L 8 AY 49/18 - asyl.net: M27347, gleichlautend auch: M27468, ähnlich: M27390)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialrecht, Sozialleistungen, Erhöhung, Inflationsanpassung, Teuerungsausgleich,
Normen: AsylbLG § 3 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

In Übereinstimmung mit dem Urteil des SG Stade vom 13.11.2018 (Az. S 19 AY 15/18), bestätigt durch Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen 23.05.2019 (Az. L 8 AY 49/18), dem Beschluss des SG Stade vom 08.05.2019 (Az. S 33 AY 4/19 ER) und dem Beschluss des SG Bremen vom 15.04.2019 (Az. S 40 AY 23/19 ER) sind die Bedarfssätze nach § 3 Abs. 1 S. 8 AsylblG (notwendiger persönlicher Bedarf) und nach § 3 Abs. 2 S. 2 AsyIblG (notwendiger Bedarf) für die Zeit ab 2017 im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung (zumindest) gemäß § 3 Abs. 4 S. 1 und 2 AsyIblG fortzuschreiben. Die Kammer schließt sich nach eigener Überzeugung der Argumentation des LSG Niedersachsen Bremen an, die wie folgt lautet:

"Hierfür sprechen eine mit dem Wortlaut des § 3 Abs. 4 und 5 AsylbLG zu vereinbarende Auslegung, die die Gesetzeshistorie und -systematik sowie den Sinn und Zweck der Aktualisierung der Leistungssätze berücksichtigt. Von besonderem Gewicht ist zudem die verfassungsrechtliche Bedeutung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG).

In Umsetzung des Urteils des BVerfG vom 18. Juli 2012 (- 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -) sind die Leistungssätze nach § 3 AsylbLG durch das Gesetz zur Änderung des AsylbLG und des SGG vom 10. Dezember 2014 (BGBl. I 2187) neu bestimmt und für die Jahre 2015 (mit Wirksamkeit ab 1. März 2015) und 2016 entsprechend der Veränderungsrate nach § 28a SGB XII (vgl. § 3 Abs. 4 AsylbLG) fortgeschrieben worden. Durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I 391) ist der Bedarfssatz für den notwendigen persönlichen Bedarf nach § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG (bis 23. Oktober 2015 gesetzlich als Bargeldbedarf bezeichnet) mit Wirkung vom 17. März 2016 abgesenkt worden, weil einzelne Bedarfspositionen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 im Rahmen der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG nach Auffassung des Gesetzgebers nicht bedarfsrelevant sein sollen.

Für das Jahr 2017 hatte der Gesetzgeber mit Vorliegen der Ergebnisse der bundesweiten neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 gemäß § 3 Abs. 5 AsylbLG die Höhe des Geldbetrags für alle notwendigen persönlichen Bedarfe (§ 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG) und die Höhe des notwendigen Bedarfs (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG) neu festzusetzen. Die zunächst mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des AsylbLG (BR-Drs. 713/16) beabsichtigte Neufestsetzung ist mit dem Ende der 18. Legislaturperiode am Grundsatz der Diskontinuität gescheitert.

Die Neufestsetzung der Bedarfssätze nach § 3 Abs. 5 AsylbLG ist nach dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip, nach dem der Gesetzgeber die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen hat, Aufgabe des Gesetzgebers (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 2/09 - juris Rn. 136) und kann nicht durch ein angerufenes Gericht erfolgen. Gleichwohl ist im Verhältnis der Norm zu § 3 Abs. 4 AsylbLG eine Fortschreibung der Bedarfssätze nicht ausgeschlossen, vielmehr - nicht zuletzt aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) - vorzugswürdig.

Wegen der grundrechtlich gebotenen Überprüfung und Weiterentwicklung der Höhe der Leistungen anhand der gegenwärtigen Umstände (BVerfG vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn, 72; BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - juris Rn. 140; BVerfG, Urteil vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - juris Rn. 79, 85) hat eine tatsächlich erfolgte Neufestsetzung aufgrund einer neuen EVS stets Vorrang vor einer Fortschreibung der Bedarfssätze. Das Gesetz enthält aber nach seinem Wortlaut keine Regelung darüber, wie im Falle der Gesetzeskonkurrenz zu verfahren ist, wenn bei Vorliegen einer neuen bundesweiten EVS sowohl der Tatbestand für die Fortschreibung der Bedarfssätze nach § 3 Abs. 4 AsylbLG als auch derjenige für die Neufestsetzung nach § 3 Abs. 5 AsylbLG erfüllt ist, letztere aber unterblieben ist. Eine Auslegung anhand der Gesetzeshistorie und -systematik spricht in diesem Fall (zumindest) für eine Fortschreibung der Leistungssätze. Bis zu der Entscheidung .des BVerfG vom 18. Juli 2012 (- 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -) ist. die Höhe der Geldleistungen im AsylbLG trotz erheblicher Preissteigerungen seit 1993 nicht verändert worden. Den vom Gesetzgeber im Jahr 1993 eingeführten Anpassungsmechanismus (BGBl. I 1993, 1074) hat der Verordnungsgeber nie umgesetzt. Der Gesetzgeber hat auf die Entscheidung des BVerfG mit der Neuregelung des AsylbLG zum 1. März 2015 denselben Fortschreibungsmechanismus wie im SGB XII eingeführt (vgl. BT-Drs. 18/2592, S. 24 f.). Insoweit sieht § 28a SGB XII vor, dass in Jahren, in denen keine Neuermittlung nach § 28 SGB XII erfolgt, die Regelbedarfsstufen jeweils zum 1. Januar mit der sich nach § 28a Abs. 2 SGB XII ergebenden Veränderungsrate fortgeschrieben werden. Die Vorschrift stellt nach ihrem Wortlaut auf die tatsächlich "erfolgte" Neufestsetzung der Regelbedarfsstufen ab, so dass auch bei einer wegen des Vorliegens einer neuen EVS an sich erforderlichen, aber unterbliebenen Neufestsetzung die Regelbedarfsstufen fortzuschreiben sind. Dies entspricht auch Sinn und Zweck der Vorschrift einer realitätsgerechten Fortschreibung des Existenzminimums aufgrund eines Mischindexes, der sowohl die bundesdurchschnittliche Entwicklung der Preise als auch der Nettolöhne und Nettogehälter je Beschäftigten im Vorjahr berücksichtigt (vgl. BT-Dr. 17/3404, S. 122; BT-Drs. 18/9984, S. 80; zur Verfassungsmäßigkeit der Fortschreibungsregelung vgl. BVerfG, Urteil vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - juris Rn. 136-139). Eine Fortschreibung der Leistungssätze ist auch nach einer verfassungskonformen Auslegung des § 3 Abs. 4 und 5 AsylbLG angezeigt, weil mit der (Weiter-) Geltung der Bedarfssätze nach § 3 AsylbLG für das Jahr 2016 auch für die Jahre 2017, 2018 und 2019 - entgegen § 3 Abs. 4 und 5 AsylbLG - eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG 1.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) einhergehen dürfte (in diese Richtung auch Hohm in ZSFH SGB 2019, 68, 72).

Einer Fortschreibung der Geldbeträge für alle notwendigen persönlichen Bedarfe nach § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG und den notwendigen Bedarf nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 und 2 AsylbLG steht im gerichtlichen Verfahren nicht entgegen, dass das BMAS eine Bekanntgabe der in den Jahren 2017, 2018 und 2019 geltenden Bedarfssätze nicht vorgenommen hat (a.A. Hohm in ZSFH SGB 2019, 68 ff.). Nach § 3 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG gibt das BMAS jeweils spätestens bis zum 1. November eines Kalenderjahres die Höhe der nach § 3 Abs. 4 Satz 1 und 2 AsylbLG fortgeschriebenen Bedarfe, die für das folgende Kalenderjahr maßgebend sind, im Bundesgesetzblatt bekannt. Bei der Beurteilung, welchen Rang die Bekanntgabe i. S. des § 3 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG in der Normenhierarchie zukommt und ob sie für die Gerichte bindend ist, kann im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung offenbleiben, ob diese den Anforderungen des Demokratie- (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) und Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) an die Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen des Gesetzgebers an die Exekutive entspricht (vgl. dazu jüngst BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 - 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15 -). Ihr kommt jedenfalls nicht der Rang eines Parlamentsgesetzes zu und [sie] unterliegt - wie auch eine Verordnung - der vollen gerichtlichen Überprüfung (a.A. Hohm, a.a.O., S. 71f.)" (So LSG Niedersachsen Bremen a.a.O., in juris, Rz. 22-26). [...]