VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 07.05.2019 - 4 A 26/18 - asyl.net: M27475
https://www.asyl.net/rsdb/M27475
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Zeugen Jehovas aus der Russischen Föderation:

Zeugen Jehovas droht in der Russischen Föderation aufgrund der Einstufung als "extremistische Gruppe" strafrechtliche Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Zeugen Jehovas, religiöse Verfolgung, Konvertiten, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Religionszugehörigkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Das Gericht ist unter Würdigung der Angaben des Klägers bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt, seinem schriftlichen Vorbringen im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens und aufgrund seiner persönlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung überzeugt davon, dass er sich bereits vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation aus innerer Überzeugung den Zeugen Jehovas zugewandt hat, diesen Glauben aus innerer und ernsthafter Überzeugung nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und der Aufnahme in hiesige Gemeinden der Zeugen des Jehovas praktiziert hat, dann diese Überzeugung Niederschlag in seiner Taufe bei dem Kongress im Jahre 2017 fand und ihm aus diesen Gründen eine Rückkehr in die Russische Föderation nicht zuzumuten ist. Die Lehre der Zeugen Jehovas ist für die Kläger wegweisend und hat er für sich eine Entscheidung zugunsten dieses Glaubens getroffen. So hat der Kläger glaubhaft geschildert, dass er bereits in der Russischen Föderation Zugang zu der Lehre der Zeugen Jehovas gefunden hat und sich trotz der familiären Abweisung seiner Glaubenszugehörigkeit daran festgehalten hat. [...]

Das an sich grundsätzlich in Art. 28 der Russischen Verfassung garantierte Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit ist dort gravierend eingeschränkt. Am 20. April 2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, die die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden. Die Zeugen Jehovas, Medien und NROs berichten von diversen Festnahmen und Geldstrafen in Höhe von bis zu 100.000 Rubel (ca. 14.000 Euro). Zudem kam es zu einer Vielzahl von Gewalttaten durch Unbekannte gegenüber Anhängern der Zeugen Jehovas (Brandstiftung, Gewaltandrohung, Vandalismus). Viele Gläubige haben Russland bereits verlassen. Die russischen Behörden gehen gezielt gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor. Seit April 2017 haben Behörden mindestens 85 strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Bei einer Verurteilung drohen ihnen Freiheitsstrafen von bis zu 10 Jahren Haft. 27 Zeugen Jehovas sitzen in Untersuchungshaft, 17 befinden sich in Hausarrest und 31 weitere dürfen ihren Wohnsitz nicht verlassen. Das Plenum des Obersten Gerichts hat im November 2017 auch bestimmt, dass ein Gericht Eltern das Sorgerecht entziehen kann, wenn sie ihre Kinder mit einer religiösen Organisation in Kontakt bringen, die als extremistisch eingestuft und verboten wurde. Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft erwähnt hier nur 2 Gruppen, nämlich Kinder von ISS-Angehörigen und Zeugen Jehovas (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 21. Mai 2018, Stand: April 2018, und vom 13. Februar 2019, Stand: Dezember 2018; BFA, Länderinformationsblatt Russische Föderation, Stand: 12. November 2018).

Nach alledem ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und der angefochtene Bescheid in seinen Ziffern 1., 3. bis 6. aufzuheben. [...]