VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 01.08.2019 - 6 A 3218/17 - asyl.net: M27479
https://www.asyl.net/rsdb/M27479
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für irakische Staatsangehörige aus der Nähe von Bagdad aufgrund von Diskriminierung wegen ihrer sunnitischen Religionszugehörigkeit:

"1. Angehörigen des sunnitischen Stammes al-Mashhadani (alternative Schreibweisen: Maschhadan(i), Muschahada, Mashadan) droht im Raum Bagdad, insbesondere in der nordöstlich von Bagdad gelegenen IS-Hochburg Tarmiyah, eine gegenüber der übrigen sunnitisch-arabischen Bevölkerung gesteigerte Gefahr, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch die irakische Armee oder schiitische PMF-Milizen zu werden.

2. Sunnitischen Arabern mit sunnitisch konnotierten Namen (z.B. Abu Bakr, Othman, Omar, Aisha) droht eine gesteigerte Gefahr, an Checkpoints der irakischen Armee oder schiitischer PMF-Milizen Opfer gewaltsamer Übergriffe zu werden.

3. Die Regelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG soll dem Umstand Rechnung tragen, dass eine Vielzahl von Diskriminierungshandlungen, die sich gegen eine Person richten (z.B. erhebliche Erschwerung des Zugangs zu Bildung, Arbeit und Wohnraum) und für sich gesehen nicht notwendigerweise eine Menschenrechtsverletzung darstellen, in ihrer Kumulation ein derartiges Ausmaß erreichen, dass sie für den Betroffenen eine unerträgliche Lage herbeiführen, bei der sich die Flucht als einziger Ausweg darstellt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Irak, Sunniten, Bagdad, Flüchtlingsanerkennung, Schiiten, Diskriminierung, PMF, Miliz, Popular Mobilization Forces,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

45 Die Konflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern im Irak beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) wie folgt:

46 "Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Baath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Baath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m.w.N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten "Islamischen Staates" (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16)."

47 Personen, die mit dem Regime Saddam Husseins in Verbindung gebracht wurden, sei es durch ihre Mitgliedschaft in der Ba’ath-Partei oder wegen ihrer (ehemaligen) Funktion bzw. ihres Berufs, sahen sich seit dem Fall des Regimes Saddam Husseins über mehrere Jahre systematischen Angriffen ausgesetzt, insbesondere nach 2005, als schiitische Parteien an die Macht kamen. Als Verantwortliche hierfür wurden vor allem schiitische Milizen mit Verbindungen zum Iran genannt, insbesondere die Badr-Organisation (ACCORD, Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2010, Verfolgung von Kampfpiloten bzw. Militärangehörigen bzw. höheren Ba’ath-Partei-Mitgliedern und deren Angehörigen, insbesondere durch schiitische Milizen, S. 2, 5 der Druckversion m.w.N.). Gegenwärtig kommt es nicht mehr zu einer systematischen Verfolgung von Mitgliedern der Ba’ath-Partei oder des alten Regimes, was vielfach darauf zurückgeführt wird, dass viele dieser Personen bereits in den auf den Regimewechsel im Jahr 2003 folgenden Jahren verfolgt wurden oder aus dem Irak flohen, während sich die Verbliebenen mit den herrschenden Parteien arrangierten. Allerdings besteht auch weiterhin dem Grunde nach eine Gefahr, Opfer gezielter Übergriffe durch reguläre irakischen Sicherheitskräfte oder schiitische Milizen zu werden (ausführlich hierzu: VG Hannover, Urteil vom 17.10.2018 – 6 A 5213/17, juris Rn. 38 ff. m.w.N. – betr. eines ehemaligen Offiziers des irakischen Geheimdienstes Jihas Almukbarat; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Ba’athists, Version 1. 0, November 2016, Rn. 2.3.4 f., 6.4; Refugee Review Tribunal Australia, Entscheidung vom 17. Mai 2012 – Case Number 1112306, Rn. 61 f.; ACCORD, a.a.O., S. 2, 4 der Druckversion sowie Anfragebeantwortung vom 18. Februar 2010, Irak: Gefährdung ehemaliger Ba’ath-Mitglieder, Armeeangehöriger bzw. Mitglieder des Vereins "Freunde Saddam Husseins", insbesondere durch schiitische Milizen; Betreiber der Internetseite "darbabl" und Ernsthaftigkeit von Todeslisten; Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2010, Verfolgung von Kampfpiloten bzw. Militärangehörigen bzw. höheren Ba’ath-Partei-Mitgliedern und deren Angehörigen, insbesondere durch schiitische Milizen; Anfragebeantwortung vom 10. Februar 2011, Irak: Repressionen gegen ehemalige Mitglieder der Ba’ath-Partei und der Armee nach dem Sturz Saddam Husseins; jeweils m.w.N.). Anknüpfungspunkt hierfür kann beispielsweise die vorangegangene Tätigkeit für eine repressive Institution wie das Militär oder den Geheimdienst sein, selbst in niederrangiger Funktion, aber auch der Umstand, dass der Betroffene der Unterstützung des andauernden (sunnitischen) Widerstandes gegen die Zentralregierung verdächtigt wird (ACCORD, a.a.O., S. 4).

48 Der letztere Gesichtspunkt hat in Anbetracht der Bedrohung durch den IS nochmals Bedeutung erlangt, weil sich in der Führungsstruktur der Organisation im Irak und in Syrien zahlreiche ehemalige Offiziere des Saddam-Regimes befinden (Reuters, Artikel vom 16. Juni 2015, "Saddam’s former army is secret of Baghdadi’s success"; Welt-Online, Artikel vom 10. August 2015, "Saddam Husseins Offiziere – Die Geheimwaffe des IS"; The Washington Post, Artikel vom 4. April 2015, "The hidden hand behind the Islamic State militants? Saddam Hussein’s"; Zeit Online, Artikel vom 28. August 2014, "Islamischer Staat: Ex-Offiziere von Saddam Hussein haben das Sagen"; UK Home Office, a.a.O., Rn. 5.1.1-5.1.12). Die mit dem Programm der "De-Baathifizierung" einhergehende Verdrängung von Sunniten aus dem Staatsdienst und die Marginalisierung ihrer Mitwirkung am politischen Prozess hat nämlich bei der sunnitischen Bevölkerung des Iraks für weitverbreitete Wut gesorgt, zumal die jeweils aufeinander folgenden schiitischen (Zentral-) Regierungen bis 2014 ihre Macht durch die Verfolgung politischer Gegner und Massenarreste konsolidierten. Je mehr die irakischen Sunniten von der Führungsriege des Landes desillusioniert waren, desto mehr stellte sich für zahlreiche von ihnen der IS als verlockende Alternative dar, sagte er doch als sunnitische Gruppierung der schiitischen Zentralregierung des Iraks den Kampf an (Vox, Artikel vom 18. September 2017, "On the ground in Iraq, the war against ISIS is just getting started", S. 3 der Druckversion). Arabische Sunniten sind deshalb aufgrund ihrer ethno-religiösen Herkunft verstärkt der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt, weil sie oftmals unter dem Pauschalverdacht leiden, mit dem IS zu sympathisieren (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 116, 157). Hiermit korrespondierend erhöhte sich seit 2014 die zielgerichtete, von Regierungskräften ausgehende Gewalt gegen sunnitische Araber in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak (BFA, a.a.O., S. 84 f.). In vielen Fällen werden dabei als Täter Angehörige schiitischer Milizen benannt, die im Jahr 2014 unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten zusammengefasst wurden. [...]

51 Die PMF-Milizen stellen im Irak einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, die sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik wiederspiegeln und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beitragen (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12. Februar 2018, S. 15). Hiermit korrespondierend suchen sie im Einklang mit den fortschreitenden militärischen Erfolgen im Kampf gegen den IS nach neuen Gründen, um ihren weiteren Einsatz auch über das Bestehen einer Fatwa hinaus zu rechtfertigen. Dies betrifft etwa den Schutz Bagdads sowie wichtiger schiitischer Stätten, ferner den Einsatz in den zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstrittenen Gebieten im Nordirak. Der Umstand, dass sich die irakischen Streitkräfte auf die Sicherung des westlichen und nördlichen Irak konzentrieren, bietet den PMF-Milizen zudem die Möglichkeit, sich in den ölreichen südlichen Provinzen als lokale Warlords zu etablieren, insbesondere an florierenden Wirtschaftsstandorten wie Basra und Amara (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3).

52 Das Vorgehen schiitischer PMF-Milizen gegen sunnitische Araber beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem den Irak betreffenden Länderbericht für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 84 f.):

53 "Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (UNHCR 14.11.2016). In Bagdad wurde gemeldet, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt wurden, aus schiitischen und gemischt sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen (UNHCR 14.11.2016). Auch gewaltsame Vertreibungen von Sunniten aus mehrheitlich von Schiiten bewohnten Vierteln Bagdads kamen laut dem Leiter des Sicherheitskomitees des Provinzrates Bagdad vor. Zum Teil würde es dabei weniger um konfessionell motivierten Hass gehen, sondern darum, die Grundstücke der vertriebenen Familien übernehmen zu können (IC 1.11.2016). Laut Berichten begehen die PMF-Milizen in Bagdad immer wieder Kidnappings und Morde an der sunnitischen Bevölkerung (die nicht untersucht werden), oder sie sprechen Drohungen dieser gegenüber aus (HRW 27.1.2016; Al-Araby 17.5.2017). Laut dem Parlamentsmitglied Abdul Karim Abtan langen bezüglich der Welle von konfessionell motivierten Entführungen und Morden fast täglich Berichte ein; er beschuldigt die Polizei, die Vorfälle zu ignorieren und den Milizen zu erlauben, straffrei zu agieren (Al-Araby 17.5.2017). Viele Familien waren in Bagdad durch den konfessionellen Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sie siedelten sich zunehmend entlang konfessioneller Grenzen wieder an (IOM 31.1.2017). Somit sind separate sunnitische und schiitische Viertel entstanden. Bagdad ist weiterhin entlang konfessioneller Linien gespalten (IOM 31.1.2017)." [...]

58 Eine gegenüber der übrigen sunnitisch-arabischen Bevölkerung gesteigerte Gefahr, Opfer eines Übergriffs durch PMF-Milizen zu werden, besteht dabei im Raum Bagdad für Angehörige des Stammes al- Mashhadani (alternative Schreibweisen: Muschahada, Maschhadan, Maschhadani, Mashadani). Dies gilt insbesondere für die nordöstlich von Bagdad gelegenen Stadt Tarmiyah. Nach einem Bericht von AL-Monitor aus dem Jahr 2018 handelt es sich hierbei um einen sunnitischen Stamm, der in einer direkten Abstammungslinie zum Propheten Mohammed stehen soll und schwerpunktmäßig im Irak beheimatet ist, in Teilen auch in Syrien. Der Stamm al-Mashhadani gilt als der größte Stamm in der Gegend von Tarmiyah (AL-Monitor, Artikel vom 27. August 2018, "IS targets rural area near Baghdad"). Unter der Diktatur Saddam Husseins erhielt der Stamm eine besonders bevorzugte Behandlung, um seine Loyalität für das Regime zu sichern, namentlich durch Bereitstellung von finanziellen Zuwendungen, Waffen und die präferierte Rekrutierung junger Stammesmitglieder in die Armee und Sicherheitsorgane sowie deren zügige Beförderung (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Irak: Lage von Angehörigen des Stammes Muschahada (Maschhadan), insbesondere Bedrohung durch die Ahl al-Haqq-Miliz; Lage von Angehörigen des Stammes Albu Nasir; Informationen zum Stamm Albu Adschil [a-10348], 27. September 2017, S. 1 der Druckversion m.w.N.). Nach dem Sturz Saddam Husseins verfolgten beispielsweise Mitglieder der Badr-Organisation im Jahr 2004 Angehörige des Stammes al-Mashhadani wegen deren vorangegangener Berufstätigkeit bei den Revolutionsgarden (The Independent, Artikel vom 13. Dezember 2005, "The al-Mashhadani family: living in terror and fighting to survive"). Ein weibliches Stammesmitglied, zugleich irakische Parlamentsabgeordnete, wurde im Jahr 2006 in Bagdad gemeinsam mit sieben ihrer Personenschützer von schiitischen Milizen entführt und zwei Monate festgehalten, um die Freilassung schiitischer Gefangener zu erpressen (The New York Times, Artikel vom 27. August 2006: "Sunni Arab Lawmaker, Freed by Captors in Iraq, Describes Her Ordeal"). Ebenfalls im Jahr 2006 entführten Mitglieder der Mahdi-Armee in Bagdad einen Angehörigen des Mashhadani-Stammes in Bagdad und töteten sechs Mitglieder des Stammes bei deren Versuch, den Entführten zu befreien (Seattle Times, Artikel vom 29. September 2006: "Deadly story familiar in Baghdad"). [...]

62 Schließlich besteht im Irak ein gesteigertes Risiko für Personen mit bestimmten sunnitischkonnotierten Nachnamen, Diskriminierungen und Schikanen durch schiitische irakische Sicherheitskräfte ausgesetzt oder sogar getötet zu werden (so zutreffend: VG Aachen, Urteil vom 30.01.2019 – 4 K 4169/17.A, juris, Rn. 30 f. m.w.N.). Schiitische PMF-Milizen suchen sich ihre Opfer oft anhand des Namens aus, da es bei Irakern häufig keine anderen Hinweise auf deren Konfessionszugehörigkeit gibt (VG Aachen, a.a.O., Rn. 31), sofern nicht Indizien wie Autoaufkleber mit schiitischen Märtyrern oder Kennzeichen sunnitisch-dominierter Provinzen herangezogen werden (The New York Times, Artikel vom 6. September 2006, "To Stay Alive, Iraqis Change Their Names").

63 Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten gründet dabei in der Frage, wer nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 n.C. die Gemeinschaft der Muslime anführen sollte. [...]

64 Diese in der Frühzeit des Islam verorteten Konflikte entfalten auch im heutigen Irak unmittelbare Wirkungen, da selbst säkulare schiitische Eltern ihren Sohn niemals nach den verachteten sunnitischen Kalifen Abu Bakr, Omar oder Othman benennen würden. Entsprechendes gilt für den weiblichen Namen Aisha, d.h. der Frau Mohammeds, welche dabei half, während des (kurzen) Kalifats Alis eine Revolte gegen ihn zu organisieren (The Independent, a.a.O.). Für sunnitische Araber mit einem entsprechend konnotierten Namen besteht deshalb die Gefahr, an (rechtmäßig oder illegal errichteten) Checkpoints des Militärs oder schiitischer Milizen verhaftet oder noch an Ort und Stelle getötet zu werden, so beispielsweise im Juli 2006 im Bagdader Viertel Jihad, als schiitische Milizionäre am helllichten Tag bis zu 50 Personen aus ihre Autos und Häuser zerrten und diese nach einem Blick auf ihre Ausweispapiere erschossen (The New York Times, Artikel vom 6. September 2006, "To Stay Alive, Iraqis Change Their Names"). Auch aktuellen Berichten zufolge werden sunnitische Araber oftmals wegen ihres sunnitisch konnotierten Namens bedroht, an Checkpoints der irakischen Sicherheitskräfte misshandelt, verschleppt und/oder getötet. Zahlreiche befragte Personen haben dabei ausdrücklich angegeben, ihren Namen in einen schiitisch konnotierten oder zumindest religiös unverfänglichen Namen ändern zu wollen, um sich dem Zugriff schiitischer Milizionäre zu entziehen (Huffington Post, Artikel vom 4. Februar 2015, "Worried Their Names Can Be A Death Sentence, Some Iraqis Look To Change Them"). Das irakische Personenstandsgesetz stellt diesbezüglich jedoch erhebliche Hürden auf, welche die Gefahr beinhalten, dass eine zur Namensänderung bereite Person zusätzliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Denn es verlangt, dass der Betroffene sein Begehren in den Tageszeitungen veröffentlicht und dann zehn Tage wartet; erhebt niemand Einspruch, wird dem Gesuch um Namensänderung stattgegeben. Auch aus diesem Grunde floriert der Handel mit gefälschten Ausweispapieren, um an den diversen Kontrollstellen sunnitischer oder schiitischer Milizen Personalausweise mit dem jeweils "richtigen" Namen vorzeigen zu können (The Huffington Post, a.a.O.; The New York Times, Artikel vom 6. September 2006, "To Stay Alive, Iraqis Change Their Names"; Stern, Artikel vom 7. August 2006, "Der falsche Name ist das Todesurteil"). [...]

70 Überdies steht dem Kläger vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/18, juris Rn. 52 ff.) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2). Insbesondere bietet sich für den Kläger keine zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad, denn die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von schiitischen Milizen verfolgten Sunniten aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde geschätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sähen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die weiterhin sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (im Jahr 2016: 6.878 getötete Zivilisten, von Januar bis Oktober 2017: 3.112 getötete Zivilisten, jeweils bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 6,6 Mio. Menschen; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.). Vor diesem Hintergrund entfällt die Verfolgungsgefahr für den Kläger auch nicht aufgrund des Umstandes, dass seine Familie mittlerweile im Bagdader Stadtteil ... lebt. Dies gilt umso mehr, als die Familie in der Vergangenheit bereits aus Bagdad vertrieben wurde. Im Übrigen ist in Rechnung zu stellen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr als ältester Sohn der Familie diese durch eine Berufstätigkeit unterstützen müsste und, wie das Beispiel seines Vaters zeigt, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Arbeit in Tarmiyah gezwungen wäre. [...]