OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 05.07.2019 - 2 B 98/18 - asyl.net: M27489
https://www.asyl.net/rsdb/M27489
Leitsatz:

Folgen eines Asylgesuchs nach Ausweisung:

"1. Macht ein Ausländer im gerichtlichen Rechtsschutzverfahren gegen seine Ausweisung geltend, ihm drohe im Heimatland politische Verfolgung, liegt ein Nachsuchen um Asyl im Sinne des § 13 AsylG vor. In der Folge können sämtliche zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse nicht mehr im Rahmen des Ausweisungsverfahrens, sondern nur noch im Rahmen des Asylverfahrens geprüft werden.

2. Schwierigkeiten, auf die ein Ausländer bei der (Re-)Integration in die Lebensverhältnisse des Herkunftslandes treffen würde, können im Rahmen von § 53 Abs. 2 AufenthG bzw. Art. 8 EMRK auch dann als Abwägungselement von Bedeutung sein, wenn sie nicht die Schwelle eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 60 AufenthG erreichen.

3. Ein Ausländer ist nach Äußerung eines Asylgesuchs im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylG nicht mehr zur Ausreise verpflichtet, auch wenn ihm entgegen § 63a AsylG ein Ankunftsnachweis noch nicht ausgestellt wurde und daher die Aufenthaltsgestattung im Sinne des § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG noch nicht entstanden ist.

4. Äußert ein Ausländer während des Widerspruchsverfahrens gegen eine ausländerrechtliche Abschiebungsandrohung ein Asylgesuch im Sinne des § 13 AsylG und führt dies zu einem Entfallen der Ausreisepflicht, wird die Abschiebungsandrohung rechtswidrig und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs ist anzuordnen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Abschiebungsandrohung, Asylantrag, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Aufenthaltsgestattung, Ausreisepflicht, Asylgesuch, sachliche Zuständigkeit, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Reintegration, Entwurzelung, politische Verfolgung, Suspensiveffekt, Widerspruch,
Normen: AsylG § 13, AufenthG § 53 Abs. 2, AufenthG § 60, AsylG § 55 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

aa) Die Einwände des Antragstellers, ihm drohe in der Türkei politisch motivierte Verfolgung bzw. menschenrechtswidrige Behandlung und er sei außerdem wegen einer Nierenerkrankung dringend auf ein Medikament angewiesen, das in der Türkei nicht erhältlich sei, können im vorliegenden ausländerrechtlichen Verfahren nicht berücksichtigt werden. Sie sind vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einem Asylverfahren zu prüfen. Spätestens als der Antragsteller im Schriftsatz vom 3.5.2018 geltend machte, dass ihm "als angebliche[m] dschihadistische[m] Islamist[en] auch in der Türkei politisch motivierte Verfolgung und menschenrechtswidrige Behandlung droh[e]", hat er im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylG um Asyl nachgesucht. Denn diesem Schriftsatz lässt sich der Wille des Antragstellers entnehmen, dass er einen (weiteren) Aufenthalt in Deutschland (auch) zum Schutz vor politischer Verfolgung bzw. Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begehrt. Ein Asylgesuch nach § 13 AsylG kann – im Gegensatz zum förmlichen Asylantrag im Sinne des § 14 AsylG – insbesondere gegenüber Ausländerbehörden und Gerichten geäußert werden (vgl. Sieweke/ Kluth, in: Kluth/ Heusch, BeckOK AuslR, § 13 AsylG Rn. 7; Bergmann, in: Bergmann/ Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, § 13 AsylG Rn. 8). Daher waren sowohl das Oberverwaltungsgericht, an das der Schriftsatz unmittelbar gerichtet war, als auch die Antragsgegnerin, an die eine Durchschrift des Schriftsatzes weitergeleitet wurde, taugliche Adressaten des Asylgesuchs (vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 3.3.2006 – 1 B 126/05 -, NVwZ 2006, 830 [830 Rn. 2 und 831 Rn. 7]). Damit ist der Antragsteller hinsichtlich aller zielstaatsbezogener Schutzersuchen und Schutzformen auf das Asylverfahren vor dem Bundesamt zu verweisen und er hat kein Wahlrecht zwischen einer Prüfung durch die Ausländerbehörde und einer Prüfung durch das Bundesamt (BVerwG, Urt. v. 9.6.2009 – 1 C 11/08 -, NVwZ 2009, 1432 [1436 Rn. 34]; BVerwG, Beschl. v. 3.3.2006 – 1 B 126/05 – NVwZ 2006, 830 [831 Rn. 3 und 7]) Dies erfasst auch die Feststellung von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG (vgl. § 24 Abs. 2 AsylG). Aus diesem Grund kann der Einwand des Antragstellers, er sei wegen seiner Nierenerkrankung auf ein Medikament angewiesen, das er in der Türkei nicht erhalten könne, im vorliegenden Verfahren ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Denn ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG steht in Rede, wenn ein Ausländer geltend macht, dass sich eine Krankheit im Heimatstaat verschlimmern würde, weil die notwendige Behandlung oder Medikation entweder generell nicht zur Verfügung steht oder für ihn individuell aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 -, NVwZ-Beil. 2003, 53 [54]).

bb) Falls der Antragsteller mit seinem Vortrag, ohne die Möglichkeit von Reisen nach Deutschland und Westeuropa würde seine wirtschaftliche Existenzgrundlage zerstört, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK bzw. eine Gefahr für Leib oder Leben i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG geltend machen will, weil er in der Türkei nicht einmal seine elementarsten Grundbedürfnisse (insbesondere hinsichtlich Unterkunft, Hygiene und Nahrung) decken könnte (vgl. EGMR, Urt. v. 28.6.2011 – 8319/07, Sufi u. Elmi ./. Vereinigtes Königreich, NVwZ 2012, 681 [685 Rn. 283]; EGMR, Urt. 21.1.2011 – 30696/09 -, M.S.S. ./ Griechenland und Belgien, NVwZ 2011, 413 [415 f. Rn. 253 f.]; BVerwG, Urt. v. 29.6.2010 – 10 C 10/09 – NVwZ 2011, 48 [50 Rn. 14 f.]), ist er entsprechend dem oben unter aa) Ausgeführten an das Bundesamt im Hinblick auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu verweisen.

Allerdings können Schwierigkeiten, sich im Herkunftsstaat eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen, auch im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 2 AufenthG bzw. Art. 8 Abs. 2 EMRK eine Rolle spielen. Denn hier ist auch die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Reintegration im Herkunftsstaat ein zu berücksichtigendes Element (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 5.7.2011 – 1 A 184/10 – juris Rn. 36). Hierbei können auch im Heimatland auftretende Schwierigkeiten in die Abwägung eingestellt werden, die unterhalb der Schwelle des § 60 AufenthG liegen (VG Oldenburg, Urt. v. 14.11.2012 – 11 A 3061/12 –, juris Rn. 27). [...]

b) Dagegen gibt das Beschwerdevorbringen Anlass, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs hinsichtlich der Abschiebungsandrohung wiederherzustellen und den angefochtenen Beschluss insoweit abzuändern. Der Widerspruch des Antragstellers, über den noch nicht entschieden ist, würde derzeit bezüglich der Abschiebungsandrohung voraussichtlich Erfolg haben. Bei der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung ist derzeit davon auszugehen, dass die Abschiebungsandrohung rechtswidrig ist.

Voraussetzung für den Erlass einer Abschiebungsandrohung ist die vollziehbare Ausreisepflicht des Ausländers (vgl. die Allg. Verwaltungsvorschrift zum AufenthG, Ziff. 59.0.3 sowie Kluth, in: Kluth/ Heusch, BeckOK AuslR, § 59 AufenthG Rn. 12). Der Antragsteller ist wegen des mit Schriftsatz vom 3.5.2018 geäußerten Asylgesuchs (§ 13 Abs. 1 AsylG) derzeit jedoch nicht vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Zwar entsteht die Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG erst mit der Ausstellung eines Ankunftsnachweises, was bisher noch nicht geschehen ist. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen sind aber unabhängig vom Besitz des Ankunftsnachweises unzulässig, wenn der Ausländer um Asyl nachgesucht hat (Hailbronner, AuslR, § 55 AsylG Rn. 11; Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 55 Rn. 5). Es kann dem Antragsteller nicht zum Nachteil gereichen, wenn ihm der Ankunftsnachweis, auf den er einen Rechtsanspruch hat (Hailbronner, AuslR, § 55 AsylG Rn. 2), entgegen § 63a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht unverzüglich ausgestellt wurde. Es liegt auch kein Fall vor, in dem kein Ankunftsnachweis ausgestellt werden muss und die Aufenthaltsgestattung daher erst mit der förmlichen Asylantragstellung beim Bundesamt entsteht (§ 55 Abs. 1 Satz 3 AsylG). Letzteres betrifft nur die Ausländer, die ihren Asylantrag gemäß § 14 Abs. 2 AsylG beim Bundesamt stellen müssen (Hailbronner, AuslR, § 55 AsylG Rn. 15). Hierzu gehört der Antragsteller nicht. Insbesondere fällt er nicht unter § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG. Seine Niederlassungserlaubnis war bereits durch die Ausweisung erloschen, als er mit Schriftsatz vom 3.5.2018 sein Asylgesuch äußerte (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG, § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).

Der Senat folgt nicht der Auffassung, dass das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen eine Abschiebungsandrohung stets entfällt, wenn durch ein nachträglich gestelltes Asylgesuch der Aufenthalt des Antragstellers für die Dauer des Asylverfahrens rechtlich gesichert ist (so aber Hailbronner, AuslR, § 55 AsylG Rn. 27; Bodenbender, GK-AsylVfG, § 55 Rn. 25). Der Fall, in dem der VGH Baden-Württemberg einen solchen Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses angenommen hat, war dadurch gekennzeichnet, dass es keine Anhaltspunkte dafür gab, dass die Ausländerbehörde trotz der aufgezeigten Rechtslage versuchen wird, den Antragsteller zwangsweise aus der Bundesrepublik zu entfernen, sondern sie im Gegenteil ausdrücklich zugesichert hatte, eine Abschiebung aufgrund der "alten" Verfügung nicht mehr durchzuführen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 30.06.1993 – 1 S 1319/13 -, juris Rn. 4). Dies ist vorliegend nicht feststellbar.

Die Antragsgegnerin hat das Asylgesuch des Antragstellers bisher nicht nach § 19 AsylG behandelt. Vielmehr hat sie im Schriftsatz vom 9. Mai 2018 zu erkennen gegeben, dass sie weiterhin eine Aufenthaltsbeendigung aufgrund des Bescheides vom 6. Dezember 2017 beabsichtigt.

Eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist auch nicht wegen Erledigung der Abschiebungsandrohung ausgeschlossen. Eine Abschiebungsandrohung erledigt sich nicht dadurch, dass der Ausländer einen Asylantrag stellt, der eine Aufenthaltsgestattung entstehen lässt (BVerwG, Beschl. v. 3.12.1997 – 1 B 219/97 -, NVwZ-RR 1998, 264; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.10.1998 – 13 S 457/96 -, juris Rn. 16). Der Wegfall der Voraussetzungen für den rechtmäßigen Erlass des Verwaltungsaktes führt noch nicht zu dessen Erledigung (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.10.1998 – 13 S 457/96 -, juris Rn. 19). Die Abschiebungsandrohung hat allein wegen des Entstehens der Aufenthaltsgestattung noch nicht endgültig ihren Zweck verfehlt. Denn erlischt die Aufenthaltsgestattung gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, weil der Ausländer nicht innerhalb von zwei Wochen nach Ausstellung des Ankunftsnachweis einen förmlichen Asylantrag im Sinne des § 14 AsylG stellt, kann die Ausländerbehörde die Ausreisepflicht aufgrund der früheren Abschiebungsandrohung wieder durchsetzen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 3.12.1997 – 1 B 219/97 -, NVwZ-RR 1998, 264; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.10.1998 – 13 S 457/96 -, juris Rn. 22). Die Antragsgegnerin könnte dann nach § 80 Abs. 7 VwGO die Abänderung des vorliegenden Beschlusses und die Aufhebung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Abschiebungsandrohung beantragen. Sollte die Aufenthaltsgestattung dagegen durch den Eintritt der Vollziehbarkeit einer vom Bundesamt nach dem AsylG erlassenen Abschiebungsandrohung erlöschen (§ 67 Abs. 1 Nr. 3 AsylG), könnte die Ausreisepflicht aufgrund dieser Androhung durchgesetzt werden. [...]