OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 10.07.2019 - 2 B 316/18 - asyl.net: M27490
https://www.asyl.net/rsdb/M27490
Leitsatz:

Rechtsmittel gegen Verteilungsentscheidung:

"1. Ob zwingende Gründe einer Verteilung nach § 15a AufenthG entgegen stehen, kann nicht von der die Verteilung veranlassenden Behörde, sondern nur von der Ausländerbehörde im Rahmen der Entscheidung nach § 15a Abs. 2 AufenthG geprüft werden.

2. Treten solche Gründe nach Bestandskraft der Vorspracheverpflichtung, aber vor der Veranlassung der Verteilung ein, sind sie gegenüber der Ausländerbehörde mit einem Antrag nach § 51 VwVfG geltend zu machen.

3. Nach Veranlassung der Verteilung können ernsthafte Gesundheitsgefahren, die mit der Verteilung verbunden wären, nur noch als Vollstreckungshindernis geltend gemacht werden.

4. Die Anforderungen an ein solches Vollstreckungshindernis sind höher als die Anforderungen an einen "zwingenden Grund" im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG. Der Ausländer darf durch die Vollstreckung der Verteilung aber jedenfalls nicht sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert werden."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Verteilungsverfahren, länderübergreifende Umverteilung, psychische Erkrankung, Krankheit, zwingender Grund, Abschiebungshindernis, Wiederaufnahme des Verfahrens,
Normen: AufenthG § 15a, AufenthG § 60a, GG Art. 2, VwVfG § 51
Auszüge:

[...]

Gesundheitliche Beeinträchtigungen können zwar einen "zwingenden Grund" darstellen, der gemäß § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG einer Verteilung entgegen steht (OVG Bremen, Beschl. v. 29.01.2014 – 1 B 302/13 -, juris Rn. 24). Ob dies im Einzelfall so ist, kann aber nicht von der Antragsgegnerin im Rahmen der Veranlassung der Verteilung geprüft werden, sondern fällt in die alleinige Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde. Die Ausländerbehörde stellt im Rahmen der Prüfung, ob sie eine Vorsprachverpflichtung nach § 15a Abs. 2 AufenthG erlässt oder nicht erlässt, auch (ausdrücklich oder inzident) fest, ob auf eine Verteilung aus zwingenden Gründen zu verzichten ist (OVG Bremen, Beschl. v. 17.3.2017 – 1 B 33/17 -, juris Rn. 8). Wenn diese Feststellung der Ausländerbehörde bestandskräftig ist – wie im vorliegenden Fall –, hat dies zur Folge, dass im Rahmen der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Verteilungsanordnung das Vorliegen zwingender Gründe i.S.d. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG nicht mehr geprüft werden kann (OVG Bremen, Beschl. v. 17.3.2017 – 1 B 33/17 -, juris Rn. 10).

Zur Klarstellung und zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten weist der Senat darauf hin, dass der Antragsteller sich im vorliegenden Fall auch nicht mehr an die Ausländerbehörde wenden kann mit einem Antrag, den Bescheid vom 24. Mai 2018 über das Nichtvorliegen von der Verteilung entgegen stehenden Gründen gemäß § 51 BremVwVfG abzuändern oder aufzuheben. Zwar ist ein solches Vorgehen grundsätzlich denkbar und geboten, wenn sich nach dem Erlass der Vorspracheverpflichtung bzw. des Feststellungsbescheides der Gesundheitszustand des Betroffenen verschlechtert oder neue ärztliche Atteste vorliegen (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BremVwVfG). Denn die Ausländerbehörde hat auch Umstände zu berücksichtigen, die nach dem Erlass der Vorspracheverpflichtung eingetreten sind (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 29.1.2014 – 1 B 302/13 –, juris Rn. 25). Dies gilt allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, in dem die zuständige Behörde die Verteilung veranlasst. Nach der Veranlassung der Verteilung können, wie sich schon aus dem Wortlaut von § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG ergibt, zwingende Gründe, die einer Verteilung entgegen stehen, nicht mehr geltend gemacht werden (OVG Bremen, Beschl. v. 29.1.2014 – 1 B 302/13 –, juris Rn. 25). Die Frage, ob eine Verteilung für den Betroffenen eine ernsthafte Gesundheitsgefahr darstellt, kann dann nur noch als Vollstreckungshindernis geprüft werden. Ein solches Vollstreckungshindernis tangiert allerdings nicht die Rechtmäßigkeit der Verteilungsentscheidung, sondern kann sich allenfalls auf die Rechtmäßigkeit der Zwangsandrohung auswirken (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 29.1.2014 – 1 B 302/13 –, juris Rn. 26). [...]

Ernstliche Gesundheitsgefahren, die eine Vollstreckung der Verteilung vorübergehend oder endgültig hindern, können nicht gleichgesetzt werden mit "zwingenden Gründen", die nach § 15a Abs. 1 Satz 6, Abs. 2 Satz 2 AufenthG der Verteilung und dem Erlass einer Vorspracheverpflichtung entgegenstehen. Ansonsten könnte der Betroffene im Vollstreckungsverfahren im Ergebnis dieselben Einwände vortragen, die er im Rahmen des Erlasses der Vorspracheverpflichtung erfolglos geltend gemacht oder geltend zu machen versäumt hat. Die Abschichtungsfunktion der Vorspracheverpflichtung und der mit ihr verbundenen Feststellung, dass keine zwingenden Gründe der Verteilung entgegenstehen, im Verhältnis zum Verteilungsbescheid (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 17.3.2017 – 1 B 33/17 -, juris Rn. 8, 9) könnte dann keine praktische Wirksamkeit entfalten. Die abschichtende Wirkung gebietet, dass das, was im Rahmen eines mehrstufigen Verfahrens auf der vorangegangenen Stufe bestandskräftig entschieden ist, danach - ohne weitere Überprüfung der Rechtmäßigkeit bis hin zur Grenze der Nichtigkeit - unberücksichtigt bleiben muss (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.2004 – 1 C 30/03 -, NVwZ 2005, 819). An das Vorliegen einer "ernsthaften Gesundheitsgefahr", die eine Vollstreckung der Verteilung hindert, sind daher höhere Anforderungen zu stellen als an das Vorliegen eines "zwingenden Grundes" i.S.d. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG. Im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG darf der Betroffene durch die Verteilung jedenfalls nicht sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert werden. Wo unterhalb dieser Schwelle die Grenze für eine ernsthafte Gesundheitsgefahr, die ein Vollstreckungshindernis darstellt, verläuft, braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden. [...]