VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.06.2019 - 11 S 2118/18 - asyl.net: M27492
https://www.asyl.net/rsdb/M27492
Leitsatz:

Entscheidungskriteren für die Frage, ob eine Person, der die Ausweisung droht, sich glaubwürdig von früherem sicherheitsgefährdendem Handeln distanziert hat:

"1. Bei der im Ausweisungsverfahren zu klärenden Frage, ob ein Ausländer von seinem früheren sicherheitsgefährdenden Handeln erkennbar und glaubhaft Abstand genommen hat (§ 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), ist ein strenger Maßstab anzulegen, wenn sich in dieselbe Richtung zielende Behauptungen des Ausländers in vergangener Zeit als unzutreffend erwiesen haben. Dabei spielt es keine Rolle, ob der betreffende Ausländer bei seinen früheren Angaben bewusst die Unwahrheit gesagt hat oder ob er zwar tatsächlich zeitweilig von früheren Positionen abgerückt war, wenig später sein sicherheitsgefährdendes Handeln aber wieder aufgenommen hat.

2. In Fällen dieser Art wird man erwarten können, dass der Ausländer seine Behauptung, nun tatsächlich und nachhaltig Abstand genommen zu haben, auf eine durch aussagekräftige tatsächliche Anhaltspunkte belegte grundlegende Änderung seines Lebenswandels stützt.

3. Zur Bedeutung von Art. 20 AEUV für die nach § 53 Abs. 1 AufenthG bei Ausweisungen vorzunehmende Interessenabwägung."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, terroristische Vereinigung, Islamisten, Salafisten, Dschihadisten, deutsches Kind, EU-Staatsangehörige, Schutz von Ehe und Familie, Kindeswohl, Abstandnehmen, Drittstaatsangehörige,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 2, GG Art 6, EMRK Art. 8, AEUV Art. 20,
Auszüge:

[...]

Denn es ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung und in der Rechtsprechung des erkennenden Senats geklärt, dass für ein erkennbares und glaubhaftes Abstandnehmen im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG das bloße Unterlassen weiterer Unterstützungshandlungen nicht genügt. Vielmehr bedarf es hierzu eindeutiger Erklärungen und Verhaltensweisen des Ausländers, mit denen er glaubhaft zum Ausdruck bringt, dass er sich nunmehr von zurückliegenden Aktivitäten erkennbar aus innerer Überzeugung distanziert (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 27.07.2017 – 1 C 28.16 -, BVerwGE 159, 270 Rn. 30; Urteil vom 25.07.2017 – 1 C 12.16 -, juris Rn. 21; Urteil vom 30.04.2009 – 1 C 6/08 -, BVerwGE 134, 27 Rn. 35; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.03.2016 – 11 S 1389/15 -, juris Rn. 62). Dies gilt unabhängig davon, ob der Ausländer eine Vereinigung, die den Terrorismus unterstützt, unmittelbar oder nur mittelbar unterstützt hat. Daher kann im vorliegenden Fall auch offenbleiben, ob das im angegriffenen Urteil des Verwaltungsgerichts aufgezeigte Engagement des Klägers für ... als unmittelbare oder nur mittelbare Unterstützung einer Vereinigung anzusehen ist, die den Terrorismus unterstützt. [...]

Danach begegnet es keinen ernstlichen Zweifeln, wenn sich das Verwaltungsgericht die klägerische Auffassung nicht zu eigen gemacht hat, für die Anwendung der Ausnahmeklausel reiche es bereits aus, dass der Kläger in jüngerer Zeit keine relevanten Unterstützungshandlungen mehr vorgenommen habe. [...]

Das Verwaltungsgericht hat seinen Überlegungen zu der Frage, ob der Kläger im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG von seinem früheren sicherheitsgefährdenden Handeln erkennbar und glaubhaft Abstand genommen hat, den zu-treffenden Maßstab zugrunde gelegt. Es ist auf einer Linie mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 -, BVerwGE 134, 27 Rn. 35) davon ausgegangen, dass es für die Anwendung der Ausnahmeklausel des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG u.a. der Feststellung objektiver Umstände bedarf, aufgrund derer die Distanzierung des Ausländers von seinem früheren sicherheitsgefährdenden Handeln hinreichend klar ersichtlich ist. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht klargestellt, dass es einer zeitlich-inhaltlichen Zäsur bedarf, die die früheren Aktivitäten des Ausländers als einen für diesen abgeschlossenen Sachverhalt erscheinen lassen. Wie bereits oben (aa)) ausgeführt, ist das Verwaltungsgericht entgegen der Auffassung des Klägers auch zu Recht davon ausgegangen, dass ein bloßes Unterlassen weiterer sicherheitsgefährdender Handlungen für sich allein noch nicht ausreicht, um die Ausnahmeklausel des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG anwenden zu können.

In diesem Zusammenhang weist der Senat ergänzend darauf hin, dass es angezeigt ist, einen strengen Maßstab an die Glaubhaftigkeit der Behauptung eines Ausländers anzulegen, er habe von früheren sicherheitsgefährdendem Handeln nachhaltig Abstand genommen, wenn sich in dieselbe Richtung zielende Behauptungen des Ausländers in vergangener Zeit als unzutreffend erwiesen haben. Dabei spielt es letztlich keine Rolle, ob der betreffende Ausländer bei seinen früheren Angaben bewusst die Unwahrheit gesagt hat oder ob er zwar tatsächlich zeitweilig von früheren Positionen abgerückt war, wenig später sein sicherheitsgefährdendes Handeln aber wieder aufgenommen hat. In Fällen dieser Art wird man erwarten können, dass der Ausländer seine Behauptung, nun tatsächlich und nachhaltig Abstand genommen zu haben, auf eine durch aussagekräftige tatsächliche Anhaltspunkte belegte grundlegende Änderung seines Lebenswandels stützt. Daraus muss sich nicht nur ein relevanter Einstellungswandel bei dem betreffenden Ausländer ergeben. Zusätzlich ist vielmehr erforderlich, dass tatsächliche Umstände dargelegt werden, aus denen sich eine hinreichende Verfestigung dieses Wandels ablesen lässt. Mit anderen Worten: Der Rahmen der Lebensführung des Ausländers muss nun in einer Weise gesteckt sein, dass mit einem Rückfall auch dann nicht zu rechnen ist, wenn vergleichbare Umstände eintreten, die den Ausländer in vergangener Zeit zu seinem sicherheitsgefährdenden Handeln gebracht haben. [...]

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts kann einem Drittstaatsangehörigen wie dem Kläger ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis zustehen, das aus Art. 20 AEUV abgeleitet wird. Dieses setzt voraus, dass ein vom Drittstaatsangehörigen abhängiger Unionsbürger ohne den gesicherten Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen faktisch gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt würde (EuGH, Urteil vom 08.05.2013 - C-82/16 -, juris Rn. 64 ff.; Urteil vom 10.05.2017 - C-133/15 -, NVwZ 2017, 1445 Rn. 70 ff.; Urteil vom 13.09.2016 - C-165/14 -, NVwZ 2017, 2018 Rn. 51; Urteil vom 19.10.2004 - C 200/02 -, juris Rn. 25 ff.; BVerwG, Urteil vom 12.07.2018 - 1 C 16.17 -, juris Rn. 34; Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 - BVerwGE 147, 261 Rn. 33 ff.).

Die Gewährung eines solchen Aufenthaltsrechts kann jedoch nur ausnahmsweise oder bei Vorliegen ganz besonderer Sachverhalte erfolgen (EuGH, Urteile 08.05.2018 - C-82/16 - juris Rn. 51; vom 08.11.2012 - C-40/11 -, NVwZ 2013, 357 Rn. 71; vom 15.11.2011 - C-256/11 -, NVwZ 2012, 97 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 12.07.2018 - 1 C 16.17 -, juris Rn 35). Verhindert werden soll nämlich nur eine Situation, in der der Unionsbürger für sich keine andere Wahl sieht als einem Drittstaatsangehörigen, von dem er rechtlich, wirtschaftlich oder affektiv abhängig ist, bei der Ausreise zu folgen oder sich zu ihm ins Ausland zu begeben und deshalb das Unionsgebiet zu verlassen (BVerwG, Urteile vom 12.07.2018 - 1 C 16.17 -, juris Rn. 35; vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 -, BVerwGE 147, 261 Rn. 34).

Gegen eine rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit spricht etwa die Tatsache, dass ein minderjähriger Unionsbürger - wie hier - mit einem sorgeberechtigten Elternteil zusammenlebt, der über ein Daueraufenthaltsrecht verfügt und berechtigt ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Allerdings ist es möglich, dass dessen ungeachtet eine so große affektive Abhängigkeit des Kindes von dem nicht aufenthaltsberechtigten Elternteil besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert oder entzogen würde. Einer solchen Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen. Hierzu zählen insbesondere das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, der Grad seiner affektiven Bindung zu seinen Eltern und das Risiko, das mit der Trennung vom drittstaatsangehörigen Ausländer für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre (EuGH, Urteil vom 10.05.2017 - C-133/15 -, juris Rn. 71; BVerwG, Urteil vom 12.07.2018 - 1 C 16.17 -, juris Rn. 35; Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 15.12 -, BVerwGE 147, 278 rn. 32 ff.). Es obliegt dem Drittstaatsangehörigen, die Informationen beizubringen, anhand deren sich beurteilen lässt, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 20 AEUV erfüllt sind (EuGH, Urteil vom 10.05.2017 - C-133/15 -, juris Rn. 75 ff.). [...]