OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.02.2019 - 13 A 1776/18.A - asyl.net: M27501
https://www.asyl.net/rsdb/M27501
Leitsatz:

Ablehnung des Antrags auf Berufungszulassung:

1. Ob die Vermutung der Wiederholung von Vorverfolgung in Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie durch bloßen Zeitablauf von 10 bis 15 Jahren widerlegt ist, wenn Angehörige der Hazara-Minderheit als Kind Opfer einer Verfolgung durch die Taliban waren, dürfte keine klärungsfähige Frage sein, da ihre Beantwortung von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängt.

2. Die folgenden Fragen sind grundsätzlich bedeutsam und damit klärungsfähig, dies wurde allerdings im vorliegenden Fall nicht ausreichend dargelegt. Besteht für Zivilpersonen im gesamten Staatsgebiet Afghanistans ein solches Gewaltniveau, dass allein aufgrund ihrer Anwesenheit die Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden? Haben aus dem westlichen Ausland nach Asylanragsablehnung Zurückkehrende, die sich zuvor lange Zeit außerhalb Afghanistans aufgehalten haben, die Möglichkeit, die Gefahren vorherzusehen und ihnen auszuweichen?

3. Ob gesunde junge Männer, die der Volksgruppe der Hazara angehören und seit ihrer Kindheit im Ausland gelebt haben, in Kabul eine zumutbare Möglichkeit internen Schutzes haben, ist keine grundsätzlich klärungsfähige Frage, da ihre Beantwortung von einer Vielzahl einzelner Umstände und Faktoren abhängig ist.

4. Auch die Frage, ob gesunden, jungen Männern, die aus dem westlichen Ausland nach Asylantragsablehnung zurückkehren und die nicht auf Hilfe aus ihrer Familie oder ihrem Freundeskreis zurückgreifen können, in Kabul und Mazar-i-Sharif eine Art. 3 EMRK-Verletzung droht, weil ein menschenwürdiges Dasein nicht möglich ist, ist einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich, weil für die Beantwortung die Berücksichtigung vieler Umstände und individueller Faktoren notwendig ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Mann, Hazara, Auslandsaufenthalt, Existenzgrundlage, Existenzminimum, extreme Gefahrenlage, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, subsidiärer Schutz, Berufung, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Darlegungserfordernis, interner Schutz, Kabul, Mazar-i-Sharif, junge Männer, arbeitsfähig, menschenwürdiges Dasein, Abschiebungsverbot,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 4 S. 4, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen.

Die Darlegung der Grundsatzbedeutung setzt voraus, dass eine bestimmte, obergerichtlich oder höchstgerichtlich noch nicht hinreichend geklärte und (auch) für die Berufungsentscheidung erhebliche Frage rechtlicher oder tatsächlicher Art herausgearbeitet und formuliert wird; zudem muss angegeben werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll. Darzulegen sind die konkrete Frage, ihre Klärungsbedürftigkeit, Klärungsfähigkeit und allgemeine Bedeutung (vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 20. Februar 2018 - 13 A 124/18.A -, juris, Rn. 3 f., vom 14. Juli 2017 - 13 A 1519/17.A -, juris, Rn. 6 f., und vom 8. Juni 2016 - 13 A 1222/16.A -, juris, Rn. 4 f., jeweils m.w.N.). [...]

1. Davon ausgehend kommt der aufgeworfenen Frage, ob die Wiederholungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU durch bloßen Zeitablauf von mehr als 10 bis 15 Jahren widerlegt ist, wenn jemand, der Hazara ist, als Kind Opfer einer Verfolgung der Taliban war, (Seite 2 des Zulassungsantrags) grundsätzliche Bedeutung i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht zu.

Es erscheint bereits zweifelhaft, ob die Frage allgemein klärungsfähig ist. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) privilegiert den Antragsteller, der bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, durch eine Beweiserleichterung. Die Vorverfolgung ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, juris, Rn. 23, m.w.N.).

Damit hängt die Beantwortung der Frage, ob die Wiederholungsvermutung durch den bloßen Ablauf einer bestimmten Zeit widerlegt ist, von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls, insbesondere von der Art und Intensität der geltend gemachten Vorverfolgung, ab. Die Frage dürfte in einem Berufungsverfahren deshalb nicht losgelöst vom konkreten Einzelfall zu klären sein.

Jedenfalls genügt das Vorbringen des Klägers nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG. [...]

2. Bezüglich der als grundsätzlich bedeutsam erachteten Frage, ob für Zivilpersonen im gesamten Staatsgebiet Afghanistans ein solches Gewaltniveau besteht, dass allein aufgrund ihrer Anwesenheit aktuell oder in naher Zukunft die Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden, und ob aus dem westlichen Ausland zurückkehrende abgelehnte Asylbewerber, die sich zuvor lange Zeit außerhalb Afghanistans aufgehalten haben, die Möglichkeit haben, die Gefahren vorherzusehen und ihnen auszuweichen, (Seite 5 unten des Zulassungsantrags) genügt das Zulassungsvorbringen nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG. Mit der Frage soll geklärt werden soll, ob nach Afghanistan zurückkehrenden Asylbewerbern im gesamten Staatsgebiet eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Tatbestandliche Voraussetzung für einen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist neben dem Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts das Bestehen einer individuellen Bedrohungssituation. Eine solche individuelle Bedrohung kann – wie das Verwaltungsgericht ausgeführt hat – in erster Linie durch gefahrerhöhende persönliche Umstände begründet sein. Nur ausnahmsweise kommt die Gewährung subsidiären Schutzes unabhängig von individuellen gefahrerhöhenden Umständen in Betracht, nämlich bei besonderer Verdichtung einer allgemeinen Gefahrenlage, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson laufe bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, Urteile vom 17. Februar 2009 - Rs. C 465/07 (Elgafaji) -, juris, Rn. 35 und 39, und vom 30. Januar 2014 - Rs. C 285/12 (Diakité) -, juris, Rn. 30; BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, juris, Rn. 32, und vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 -, juris, Rn. 19).

Die Gefahrverdichtung ist dabei konkret anhand der jedenfalls annäherungsweise quantitativ zu ermittelnden Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktpersonen gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie anhand einer wertenden Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Februar 2014 - 10 C 6.13 -, juris, Rn. 24 und vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 -, juris, Rn. 22 f.).

Für den Großraum Kabul hat das Verwaltungsgericht nach Auswertung der angeführten Auskünfte, Gutachten und Erkenntnisse das Vorliegen einer besonderen Gefahrverdichtung verneint (S. 11 ff. des Urteilsabdrucks). Dabei hat es unter anderem die von UNAMA für das Jahr 2017 mitgeteilten Zahlen ziviler Opfer in der Provinz Kabul und in Kabul-Stadt zugrunde gelegt und in seine Bewertung einbezogen, dass es sich bei diesen Daten nur um Näherungen handele und die Opferzahlen auch bei anderer Zählweise auch höher liegen könnten, dass andere methodisch-belastbare Primärdaten aber nicht vorlägen (S. 11 des Urteilsabdrucks). Dem Zulassungsvorbringen lassen sich keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine vom Verwaltungsgericht abweichende Einschätzung entnehmen. Die vom Kläger angeführten Erkenntnismittel, die sämtlich aus dem Jahr 2017 stammen, vermögen seine These, die Lage sei seit Januar 2018 "eskaliert", nicht zu stützen [...]

3. Die weiter aufgeworfenen Fragen, ob gesunde junge Männer, die der Volksgemeinschaft der Hazara angehören und seit ihrer Kindheit im Ausland gelebt haben, in Kabul eine zumutbare Möglichkeit internen Schutzes haben, (Seite 3 des Zulassungsantrags) und ob für gesunde junge Männer, die aus dem westlichen Ausland als abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan zurückkehren und nicht auf die Hilfe von Verwandten und Freunden zurückgreifen können, in Kabul und Mazar-i-Sharif die Möglichkeit besteht, eine hinreichende Existenz aufzubauen, insbesondere Arbeit und Unterkunft zu finden, oder ob ihnen die Verletzung in ihren Rechten aus Art. 3 EMRK droht, weil ein menschenwürdiges Dasein nicht möglich ist, (Seite 5 des Zulassungsantrags) rechtfertigen die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG ebenfalls nicht.

Zum einen sind sie – unabhängig davon, dass die zweite dieser Fragen, soweit sie die Verhältnisse in Mazar-i-Sharif betrifft, nicht entscheidungserheblich ist – einer grundsätzlichen Klärung i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht zugänglich, weil ihre Beantwortung von einer Vielzahl einzelner Umstände und Faktoren abhängig ist. Die Fragen zielen auf eine generelle Entscheidung über die Möglichkeit internen Schutzes nach § 3e AsylG sowie das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG für Männer, die die jeweils genannten Merkmale aufweisen. Ob die Voraussetzungen des § 3e AsylG oder des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, hängt neben den genannten Faktoren des Alters, des Gesundheitszustands und dem bisher überwiegenden Aufenthalt im Ausland sowie der Volkszugehörigkeit bzw. den fehlenden familiären oder freundschaftlichen Verbindungen allerdings von weiteren individuellen Faktoren ab. In jedem Einzelfall sind außerdem z.B. die Vermögensverhältnisse, der (Aus-)Bildungsstand und andere auf dem Arbeitsmarkt nützliche Eigenschaften sowie das Bestehen anderer als familiärer oder freundschaftlicher, insbesondere beruflicher, Kontakte zu berücksichtigen. [...]