VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 23.05.2019 - 2 A 268/17, 2 A 268/1 - asyl.net: M27508
https://www.asyl.net/rsdb/M27508
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Ehepaar mit kleinen Kindern, das in Pakistan von "Ehrenmord" bedroht ist:

1. In Pakistan kommt es immer wieder zu Übergriffen durch Familienangehörige auf Personen, die zum Beispiel eine außereheliche Beziehung unterhalten oder eine Liebesehe schließen (sogenannte Ehrenmorde).

2. Zwar bekennt sich Pakistan in seiner Verfassung sowie in Gesetzen grundsätzlich zur staatlichen Schutzpflicht, allerdings sind die Polizeikräfte in Pakistan aufgrund schwach ausgebildeter rechtsstaatlicher Strukturen nicht willens bzw. nicht in der Lage, Opfer von Ehrenmorden vor einem Angriff zu schützen.

3. Hat eine Familie zwei kleine Kinder, so dass nur ein Elternteil arbeiten kann, ist nicht davon auszugehen, dass diese sich außerhalb ihrer Heimatregion und ohne familiäre Unterstützung eine Existenzgrundlage verschaffen könnte.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, Eheschließung, nichtstaatliche Verfolgung, Mesalliance, subsidiärer Schutz, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Ehrenmord, Familie,
Normen: AsylG § 4,
Auszüge:

[....]

Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Das Gericht hat nach Bewertung des Inhalts der Anhörung beim Bundesamt und nach dem in der mündlichen Verhandlung erhaltenen Eindruck die Überzeugung gewonnen, dass die Kläger Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 AsylG, Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden: QRL) haben. [....]

Nach diesen Maßstäben droht der Klägerin zu 1. im Fall ihrer Rückkehr nach Pakistan eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG) durch nichtstaatliche Akteure (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG) und damit ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG. Die Klägerin zu 1. hat eine solche Behandlung vor ihrer Ausreise bereits erlitten. Nach Bewertung ihres Vorbringens beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung geht das Gericht von folgendem Sachverhalt aus:

Nachdem die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann beschlossen hatten, die Ehe zu schließen, baten die Eltern des Ehemanns die Eltern der Klägerin zu 1. um ihre Zustimmung, die verweigert wurde. Die Klägerin zu 1. versuchte daraufhin, ihren Vater zu einer Meinungsänderung zu veranlassen. Dieser lehnte ab, schlug sie und drohte ihr, "sie anzuzünden", sollte sie diese Ehe schließen. Die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann schlossen die Ehe sodann heimlich unter Mitwirkung eines Mullahs. Nachdem dies den Familien bekannt geworden war, kam es zu einem Angriff des Bruders der Klägerin zu 1. und seiner Freunde auf den Ehemann, bei dem dieser zusammengeschlagen wurde. Der Bruder telefonierte während dieses Angriffs mit seinem Vater und forderte ihn auf, herzukommen und eine Waffe mitzubringen, damit man diese Angelegenheit "endgültig beenden" könne. Nur infolge des Eingreifens von Passanten konnte der Ehemann fliehen. Kurz darauf zündete die Familie der Klägerin zu 1. einen der Lkw des Ehemanns an. Die Familie des Ehemanns sagte sich von diesem los. [....]

Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass es infolge derartiger Übergriffe ohne Weiteres zu erheblichen Grundrechtsverletzungen hätte kommen können. Sog. "Ehrenmorde", deren Opfer z.B. eine außereheliche Beziehung unterhielten oder eine Liebesehe schlossen bzw. diesbezüglich verdächtigt wurden, kommen in Pakistan weiterhin häufig vor. Die Nichtregierungsorganisation "Human Rights Commission of Pakistan" schätzt, dass 2017 hunderte Frauen Opfer von Ehrenmorden wurden; andere Schätzungen gehen von bis zu 1.000 Opfern pro Jahr aus. Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen Frauen, die angeblich Kontakt zu fremden Männern hatten, von ihren Ehemännern oder Brüdern getötet oder schwer verletzt werden. Dabei kommt es beispielsweise auch zu Säureangriffen; 2017 zählte die "Human Rights Commission of Pakistan" 18 derartiger Angriffe (vgl. zu alledem Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 21.08.2018, Seite 18; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Pakistan, Stand: 31.07.2018, S. 118). Eine Verfolgung von Straftaten wird in Pakistan dadurch erschwert, dass die Polizei schlecht bezahlt, oft unzureichend ausgestattet und in extrem hohem Maß korruptionsanfällig ist. Zudem sind die Polizeikräfte oft in lokale Machtstrukturen eingebunden und deshalb nicht in der Lage, unparteiliche Untersuchungen durchzuführen. So werden häufig Straf anzeigen gar nicht erst aufgenommen und Ermittlungen verschleppt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.08.2018, Seite 10). Hierzu passt der Vortrag des Ehemanns der Klägerin zu 1., er habe bei der Erstattung einer Anzeige gegen deren Familie das Gefühl gehabt, nicht ernst genommen worden zu sein. In etwa zwei Dritteln der Fälle, in denen es wegen einer "Ehrentötung" zu einer Strafverfolgung kommt, werden die Angeklagten freigesprochen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.08.2018, Seite 18). Angesichts einer solchen Praxis der Strafverfolgung und des geringen Risikos für die Täter ist zu befürchten, dass es auch künftig nicht zu einer Verringerung der Anzahl von "Ehrenmorden" kommen wird. Schließlich hat die Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass es in ihrer eigenen Familie bereits zu einem solchen Verbrechen gekommen sei und dass ihr eigener Vater dieses "vertuscht" habe.

Die Vermutung, dass die Klägerin zu 1. im Fall ihrer Rückkehr in ihren Heimatort wiederum Übergriffen ihrer Familienangehörigen unterliegen und dass sie dann ernsthaften Schaden erleiden würde, ist nicht widerlegt. Nach dem Vorstehenden ist davon auszugehen, dass Polizeikräfte nicht willens bzw. in der Lage wären, sie vor dem Angriff zu schützen (vgl. § 3c Nr. 3 AsylG). Zwar bekennt sich Pakistan in seiner Verfassung und auf der Ebene einfacher Gesetze grundsätzlich zur staatlichen Schutzpflicht. Gleichwohl fällt es Pakistan insgesamt angesichts schwach ausgebildeter rechtsstaatlicher Strukturen (siehe oben) und der geringen Verankerung des Rechtsstaatsgedankens in der Gesellschaft schwer, rechtsstaatlichen Entscheidungen und damit auch der Schutzpflicht Geltung zu verschaffen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.08.2018, Seite 19). Es ist daher anzunehmen, dass die Klägerin zu 1. den zu befürchtenden Übergriffen durch ihre Familie schutzlos gegenüberstehen würde.

Der Klägerin zu 1. steht in Pakistan auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG, der nach § 4 Abs. 3 AsylG im Rahmen der Prüfung subsidiären Schutzes entsprechend gilt, wird dem Ausländer der Schutzstatus nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Zwar geht die Kammer in ständiger Rechtsprechung (vgl. z.B. Urteil vom 25.04.2019, 2 A 639/17) davon aus, dass Rückkehrer in anderen Teilen Pakistans, insbesondere in den größeren Städten, eine interne Schutzmöglichkeit i.S.v. § 3e AsylG finden können. In den Städten Pakistans - vor allem in den Großstädten Rawalpindi, Lahore, Karatschi, Peschawar oder Multan - leben potenziell Verfolgte aufgrund der dortigen Anonymität sicherer als auf dem Land. Selbst Personen, die wegen Mordes von der Polizei gesucht werden, könnten in einer Stadt, die weit genug von ihrem Heimatort entfernt liegt, unbehelligt leben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.08.2018, S. 19). Angesichts dessen ist es unwahrscheinlich, dass die Familie der Klägerin zu 1. die Mittel und Möglichkeiten hätte, diese in ihrer ganzen Heimatprovinz oder gar landesweit ausfindig zu machen und zu verfolgen.

Das Gericht geht des Weiteren in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass erwachsene, junge, arbeitsfähige Männer ohne eigene Kinder in den Großstädten und in anderen Landesteilen auch ein ausreichendes Einkommen finden (vgl. Wagner, Auskunft an VG Karlsruhe vom 09.11.2011; UNHCR vom 14.05.2012). [....)

Im konkreten Einzelfall der Klägerin zu 1. ist das Gericht jedoch davon überzeugt, dass es dieser nicht gelingen wird, sich außerhalb ihrer Heimatregion und damit ohne enge familiäre Unterstützung eine tragfähige Existenzgrundlage zu verschaffen. Wie bereits dargelegt, bezieht sich die Annahme, es sei ein ausreichendes Einkommen zu erzielen, auf alleinstehende, kinderlose Männer. Die Klägerin zu 1. würde jedoch nicht allein oder nur zusammen mit ihrem Ehemann nach Pakistan zurückkehren. Vielmehr sind Teil ihrer Kernfamilie auch der am ... geborene Kläger zu 2. und die am ... geborene Tochter. Das Gericht bezieht die gesamte Familie in die vorzunehmende Betrachtung ein und folgt damit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 16.08.1993 - 9 C ./93 -, juris Rn. 10). Weil angesichts des Alters der beiden Kinder nicht davon auszugehen ist, dass die Klägerin zu 1. eigenes Einkommen erzielen könnte, wäre die Familie ausschließlich darauf angewiesen, dass ihr Ehemann ein Familieneinkommen erwirtschaftet, das zur Abdeckung ihrer existenziellen Bedürfnisse ausreicht. Dies ist jedoch nicht zu erwarten. Staatliche Wiedereingliederungshilfen oder sonstige Sozialleistungen für pakistanische Staatsangehörige, die in ihr Heimatland zurückkehren, gibt es nicht (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.08.2018, S. 24). [....]