VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 30.08.2018 - 33 K 428.16.A - asyl.net: M27514
https://www.asyl.net/rsdb/M27514
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine tschetschenische Frau wegen drohendem Entzug der Kinder nach ihrer Trennung vom Ehemann:

1. Die drohende erzwungene Trennung einer Mutter von ihren minderjährigen Kindern durch Verwandte stellt eine Verfolgungshandlung dar.

2. In Tschetschenien überlagern das traditionelle Gewohnheitsrecht (Adat) sowie das Scharia-Recht das russische Recht, so dass nicht von einem wirksamen Schutz durch die tschetschenische oder die russische Staatsgewalt ausgegangen werden kann.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Frauen, geschiedene Frauen, Scheidung, Kinder, Sorgerecht, soziale Gruppe, interne Fluchtalternative, Nachfluchtgründe, Flüchtlingsanerkennung, Trennung, Adat, Scharia-Recht,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

21 Die Bescheide der Beklagten vom 28. September 2016 und 10. Juli 2017 sind insoweit rechtswidrig und verletzen die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), als die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Klägerin zu 1 und die Zuerkennung subsidiären Schutzes für die Klägerinnen zu 2 bis 6 abgelehnt hat.

22 1. Die Klägerin zu 1 hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

28 Zwar ist sie nicht vorverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist. Denn weder die in der Anhörung benannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Familie vor der Ausreise noch die von ihr befürchtete Aufdeckung der Vaterschaft für die Klägerin zu 2 begründen zur Überzeugung der Kammer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Furcht vor Verfolgung. [...]

29 Jedoch hat sie mit ihrem Vorbringen im Klageverfahren nach § 28 Abs. 1a AsylG beachtliche Nachfluchtgründe dargelegt. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Klägerin zu 1 bei einer Rückkehr nach Tschetschenien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch ihre männlichen Verwandten in Anknüpfung an ihr Geschlecht droht, ohne dass der Staat willens oder in der Lage wäre, ihr Schutz zu bieten. [...]

34 Die erzwungene Trennung der Klägerinnen durch die Familien in Tschetschenien ist nach den Erkenntnissen der Kammer in dieser Situation beachtlich wahrscheinlich. Die Lage der Frauen ist im Nordkaukasus besonders schwierig. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht sowie die Diskriminierung von Frauen haben zugenommen (Auswärtiges Amt, S. 10, 13). Die tschetschenische Regierung betreibt eine Politik der Re-Traditionalisierung und Islamisierung, die Frauen gesellschaftlich besonders trifft (Accord, Frauen in Tschetschenien, 4. Juli 2012, S. 7). Zwangsheirat, Entführungen von Frauen und Mädchen für Zwangsheiraten, Verbrechen im Namen der Ehre, Beschneidungen und Polygamie sind sozial legitimiert und werden durch Straflosigkeit geduldet (Gesellschaft für bedrohte Völker, Tschetschenien: Die aktuelle Menschenrechtssituation, Juni 2016, S. 10). Nach einer Scheidung gehören die Kinder nach tschetschenischer Tradition dem Vater. Sie gelten als dessen "Eigentum" und sollen in dessen Familie leben (EASO-Bericht, Tschetschenien: Frauen, Heirat, Scheidung und Sorgerecht für Kinder, September 2014, S. 29; Accord, Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Tschetschenien: Situation von alleinstehenden Frauen mit unehelichen Kindern, 3. Juni 2014, S. 7; Gesellschaft für bedrohte Völker, Menschenrechtsreport Nr. 68, November 2012, S. 26; Memorial, Tschetschenen in Russland – Frauen in der Tschetschenischen Republik, November 2013, S. 29). Anders als im Scharia-Recht, das kleine Kinder, bis sie sieben Jahre alt sind, bei der Mutter lässt, gehören auch Kleinkinder nach dem Adat, dem traditionellen Gewohnheitsrecht Tschetscheniens, in die Obhut der Familie des Vaters. Dabei steht der Mutter allenfalls ein Besuchsrecht zu. Nur in Ausnahmefällen hat die Mutter zu ihren Kindern regelmäßig Kontakt (EASO-Bericht, S. 29; Accord, Tschetschenien: Situation von alleinstehenden Frauen, S. 7 f.). Es ist nicht zu erwarten, dass die Klägerin ohne eigenen familiären Rückhalt und eigene finanzielle Mittel wirksamen familiengerichtlichen Rechtsschutz erhalten kann, da die tschetschenischen Gerichte neben russischem Recht auch islamisches Recht und tschetschenische Traditionen anwenden. Erfolgsaussichten haben allenfalls gebildete berufstätige Frauen mit familiärem Rückhalt (EASO-Bericht, S. 30).

35 Die der Klägerin zu 1 mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende erzwungene Trennung von ihren minderjährigen Kindern stellt eine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar. Es handelt sich dabei um eine schwerwiegende Verletzung ihres grundlegenden Menschenrechts auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK und ihres Grundrechts auf Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG). [...]

36 Dabei kann offen bleiben, ob bereits die Verfolgungshandlung geschlechtsbezogen ist und daher zusätzlich der Tatbestand des § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG erfüllt ist. Denn jedenfalls liegt ein Verfolgungsgrund nach § 3b Abs. 1 Nr. 4, Halbs. 4 AsylG vor. [...]

39 Ob zudem die Voraussetzungen einer geschlechtsspezifischen Verfolgung wegen eines drohenden Ehrenmordes an der Klägerin zu 1 vorliegen, bedarf hiernach keiner Entscheidung. Ein Ehrenmord erscheint nicht beachtlich wahrscheinlich. [...]

40 Die Verfolgung der Klägerin zu 1 geht von einem Akteur im Sinne von § 3c AsylG aus. Jedenfalls der Ehemann der Klägerin zu 1 und sein Bruder sowie der Bruder der Klägerin zu 1 sind Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG. [...] Der Ehemann der Klägerin zu 1 sowie die weiteren männlichen Verwandten, die verlangen, dass die Klägerin zu 1 ihre Kinder herausgibt und in die Obhut ihrer Familie zurückkehrt, sind nichtstaatliche Akteure. Weder die tschetschenische noch die russische Staatsgewalt ist i.S.d. § 3d Abs. 1 Nr. 2 AsylG willens und in der Lage, der Klägerin zu 1 wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz i.S.d. § 3d Abs. 2 AsylG zu gewähren.

41 Dies ergibt sich aus den Erkenntnissen der Kammer zu der Lage in Tschetschenien. So überlagern das traditionelle Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht in Tschetschenien das russische Recht (Auswärtiges Amt, S. 14). Die Vorschriften des Adat und Scharia-Rechts, wonach die Kinder im Falle der Scheidung dem Vater gehören und in dessen Familie leben, werden in Tschetschenien auch durch die Familiengerichte angewandt. Dabei wird gerichtlicher Rechtsschutz ohnehin von den betroffenen Frauen aus Angst kaum in Anspruch genommen. Die Umsetzung von Sorge- und Umgangsrechtsentscheidungen für Frauen ist zudem schwierig, da im Fall einer positiven Entscheidung für die Frau mit dem Widerstand der Familie des Mannes zu rechnen ist (EASO-Bericht, S. 29 f.).

42 2. Den Klägerinnen zu 2 bis 6 steht der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 AsylG zu. [...]

46 Hiernach droht den Klägerinnen zu 2 bis 6 eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Sie werden bei einer Rückkehr nach Tschetschenien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dauerhaft von ihrer Mutter getrennt werden. Die zwangsweise Trennung der Klägerinnen von ihrer Mutter stellt einen schwerwiegenden Eingriff in ihr grundlegendes Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK und Art. 6 GG dar. In dieses Recht wird besonders schwerwiegend eingegriffen, indem die Klägerinnen zu 2 bis 6 gegen ihren Willen und ohne Berücksichtigung ihrer Belange und Interessen von ihrer Mutter getrennt werden. Sie werden letztlich zum bloßen Objekt herabgewürdigt und somit einer unmenschlichen, ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) widersprechenden Behandlung unterzogen (vgl. VG Hamburg, a.a.O., juris Rn. 27; VG Karlsruhe, a.a.O., juris Rn. 20). Die erzwungene dauerhafte Trennung der Klägerinnen ist auch eine herabwürdigende Behandlung und würde Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorrufen, die geeignet sind, ihren moralischen und psychischen Widerstand zu brechen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigten, dass die noch minderjährigen Klägerinnen zwischen einem Jahr und zwölf Jahren alt sind, seit Februar 2013 mit ihren Eltern in Deutschland leben bzw. in Deutschland geboren sind und spätestens seitdem ihre Verwandten in Tschetschenien nicht gesehen haben. [...]

48 3. Interner Schutz im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG besteht für die Klägerin zu 1 nicht. Entsprechend können auch die Klägerinnen zu 2 bis 6 nicht nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG auf internen Schutz verwiesen werden. [...]

49 Vorliegend fehlt es bereits an der in § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG vorausgesetzten Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Teil des Herkunftslandes. Es bestehen erhebliche Zweifel daran, dass es den Klägerinnen gelingen würde, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation vor ihren männlichen Familienmitgliedern versteckt zu halten. [...]

50 Darüber hinaus ist interner Schutz für die Klägerinnen nicht zumutbar. Voraussetzung hierfür ist unter anderem, dass der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, das heißt zumindest das Existenzminimum gewährleistet ist (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 185; BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2008 – BVerwG 10 C 11.07 –, juris Rn. 35). [...]

51 Den Klägerinnen ist es insbesondere nicht zumutbar, sich zur Verheimlichung ihres Aufenthaltsortes ohne behördliche Anmeldung in anderen Teilen der Russischen Föderation niederzulassen, da diese Voraussetzung für den Bezug von Sozialleistungen ist. [...]