VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 04.06.2019 - 13 K 5275/17.A - asyl.net: M27521
https://www.asyl.net/rsdb/M27521
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für ältere Schutzsuchende wegen schlechter Versorgungslage in Venezuela:

Die allgemeine Versorgungslage und schlechten Lebensbedingungen sowie die daraus resultierenden Gefährdungen in Venezuela weisen eine derart hohe Intensität auf, dass insbesondere für ältere Menschen auch ohne konkret drohende Maßnahmen bei einer Rückkehr von einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK auszugehen ist. Deshalb ist das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Venezuela, Existenzminimum, Existenzgrundlage, extreme Gefahrenlage, Abschiebungsverbot, Versorgungslage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Zugunsten der Kläger ist jedoch das Vorliegen von Abschiebungsverboten anzunehmen. [...]

Zwar machen die Kläger nicht geltend, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Venezuela näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden. Die in Venezuela insgesamt zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen vorliegend aber eine derart hohe Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist, die den Klägern im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würde. Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR können humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat nur in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen (vgl. NdsOVG, B. v. 27.04.2016 - 9 LA 46/16 - unter Verweis u.a. auf EGMR, U. v. 28.06.2011 - 8319/07 und 1149/07 - "Sufi and Elmi"). Eine derartige Ausnahmesituation wäre für die Kläger gegeben, wenn sie derzeit nach Venezuela zurückkehren müsste. Dies gilt insbesondere in Ansehung des bereits hohen Alters der Kläger.

Die humanitäre Situation in Venezuela stellt sich derzeit ausweislich der dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel sowie der allgemein bekannten und in den vielfältigen Medien dargestellten Situation wie folgt dar:

Nahrungsmittel sind in Venezuela knapp. Die Lebensmittelversorgung ist prekär und die Teuerungsrate für Nahrungsmittel steigt weiter (vgl. Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland, Stellungnahme vom 25.01.2018 zu Anfrage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.07.2017). Internationale Organisationen warnen vor einer humanitären Krise (Handelsblatt, Artikel vom 03.06.2018, "Venezuela führt wegen Hyperinflation neue Währung ein"). [...] Zwar verteilt die venezolanische Regierung Lebensmittel, deren Ausgabe von den "Lokalen Versorgungs- und Produktionskomitees" organisiert wird (vgl. ARD, Deutsche Welle, Bericht vom 01.03.2018, Venezuela: Der Hunger bedroht eine ganze Generation). Die Lebensmittelhilfe umfassten insbesondere Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl, Öl, Nudeln, Zucker und Salz (vgl. ARD, Deutsche Welle, Bericht vom 01.03.2018, Venezuela: Der Hunger bedroht eine ganze Generation). Jedoch wurden bereits in der Vergangenheit die staatlichen Essenspakete selbst für die Ärmsten teilweise nicht verteilt (Spiegel Online, Hyperinflation und Lebensmittelmangel, Venezuelas große leere, Artikel vom 14.01.2018). [...] Daher bekämen die subventionierten Lebensmittel derzeit nur noch Regierungsangestellte regelmäßig alle vierzehn Tage und alle anderen Bedürftigen würden oft bis zu zwei bis drei Monate warten (Deutschlandfunk, Krise in Venezuela, Ein ungleicher Kampf um die Macht, Artikel vom 01.04.2019).

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat gegenüber der Ausländerbehörde der
Freien Hansestadt Hamburg zuletzt Folgendes ausgeführt (vgl. Bundesamt, Stellungnahme gem. § 72 Abs. 2 AufenthG vom ... 05.2019, ...-432): "Aus Sicht des Bundesamtes liegt bei dem o.g. Ausländer ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG für Venezuela vor. ... Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Venezuela führen zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Ausländers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliegt. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab sind erfüllt. [...] Aufgrund der Individuellen Umstände des Ausländers ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung außergewöhnlich erhöht und deswegen ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist. Ob der Ausländer im Herkunftsland noch Verwandtschaft hat, ist dem Bundesamt nicht bekannt. In Anbetracht der allgemeinen Lage auf dem Arbeitsmarkt ist nicht davon auszugehen, dass der Ausländer nach der Rückkehr seine Existenz sichern kann. Zudem wäre er aufgrund der jüngsten Entwicklung In Venezuela nicht in der Lage eine Wohnung, den Lebensunterhalt oder etwaige Kosten für einen Arzt zu erwirtschaften. Auf Grund der hohen Inflationsrate und der Preise Ist dies auch nicht für den in Deutschland lebenden Ehemann möglich, da ein Auskommen monatlich ca. 1750 $ betragen würde."

Es sind keine Gründe ersichtlich, dies im vorliegenden Fall anders zu beurteilen. Es steht zu erwarten, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr nach Venezuela, egal in welchen Landesteil, nicht in der Lage sein werden ihre Existenz zu sichern. [...]