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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 20.06.2019 - 1 B 10.19 - asyl.net: M27527
https://www.asyl.net/rsdb/M27527
Leitsatz:

Vander Elst-Visum" für einen drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer zur Erbringung einer Dienstleistung durch ein Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU:

"1. Die Erteilung eines Visums an einen drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer nach § 6 Abs. 3, § 18 AufenthG i.V.m. § 21 BeschV und den Grundsätzen der Vander Elst-Rechtsprechung des EuGH (sog. "Vander Elst-Visum") kommt nur zur Erbringung einer Dienstleistung durch ein Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU in Betracht.

2. Der unionsrechtliche Begriff der Dienstleistung umfasst nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH in Abgrenzung zum Niederlassungsrecht alle Dienstleistungen, die in einem anderen Mitgliedstaat nicht in stabiler und kontinuierlicher Weise, sondern nur vorübergehend erbracht werden (vgl. u.a. EuGH, Urteile vom 11. Dezember 2003 - C-215/01, Schnitzer - Rn. 27 und vom 19. Juli 2012 - C-470/11, SIA Garkalns - Rn. 27).

3. Die Prüfung, ob eine wirtschaftliche Tätigkeit nach den vom EuGH aufgestellten Kriterien den für eine Dienstleistung erforderlichen vorübergehenden Charakter aufweist, obliegt den nationalen Gerichten (EuGH, Urteile vom 11. Dezember 2003 - C-215/01, Schnitzer - Rn. 33 und vom 19. Juli 2012 - C-470/11, SIA Garkalns - Rn. 30 f.)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Drittstaatsangehörige, Dienstleistung, Dienstleistungsfreiheit, Entsendung, Arbeitnehmerentsendung, Wanderarbeitnehmer, Vander Elst-Visum, Visum, Arbeitnehmer,
Normen: AufenthG § 6 Abs. 3, § 18, BeschV § 21,
Auszüge:

[...]

7 Hinsichtlich der Auslegung des Begriffs der Dienstleistungsfreiheit in Art. 56 ff. AEUV (früher: Art. 49 ff. EG-Vertrag) in Abgrenzung zum Niederlassungsrecht in Art. 49 ff. AEUV (früher: Art. 43 ff. EG-Vertrag) ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit entweder der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit unterfällt (EuGH, Urteil vom 30. November 1995 - C-55/94 - Rn. 20) und die Vorschriften über die Dienstleistungen gegenüber denen über das Niederlassungsrecht subsidiär sind, weil für die Dienstleistungsfreiheit schon nach dem Wortlaut des Art. 56 Abs. 1 AEUV erforderlich ist, dass der Erbringer und der Empfänger der betreffenden Dienstleistung in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten "ansässig" sind und weil nach Art. 57 AEUV die Vorschriften über die Dienstleistungen nur Anwendung finden, wenn die Vorschriften über das Niederlassungsrecht nicht anwendbar sind ("unbeschadet des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit"; vgl. EuGH, Urteil vom 30. November 1995 - C-55/94 - Rn. 22; s.a. Urteile vom 12. Dezember 1996 - C-3/95 [ECLI:EU:C:1996:487], Reisebüro Broede - Rn. 19, vom 11. Dezember 2003 - C-215/01 [ECLI:EU:C:2003:662], Schnitzer - Rn. 26 und vom 11. März 2010 - C-384/08 [ECLI:EU:C:2010:133], Attanasio - Rn. 39).

8 Das Niederlassungsrecht kann sowohl juristischen als auch natürlichen Personen zustehen, die Angehörige eines Mitgliedstaats der EU sind. Es umfasst grundsätzlich die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten jeder Art, die Gründung und Leitung von Unternehmen und die Errichtung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats. Folglich kann eine Person in mehreren Mitgliedstaaten niedergelassen sein. Der unionsrechtliche Begriff der Niederlassung ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ein sehr weiter Begriff, der für Angehörige eines Mitgliedstaats die Möglichkeit impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Union im Bereich der selbständigen Tätigkeiten gefördert wird (EuGH, Urteil vom 30. November 1995 - C-55/94 - Rn. 23 bis 25; s.a. Urteile vom 12. Dezember 1996 - C-3/95 - Rn. 20, vom 14. September 2006 - C-386/04 [ECLI:EU:C:2006:568], Stauffer - Rn. 18, vom 11. Oktober 2007 - C-451/05 [ECLI:EU:C:2007:594], ELISA - Rn. 59, vom 11. März 2010 - C-384/08 - Rn. 36 und vom 26. Oktober 2010 - C-97/09 [ECLI:EU:C:2010:632], Schmelz - Rn. 37). Hierfür bedarf es der tatsächlichen Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung im Aufnahmemitgliedstaat auf unbestimmte Zeit (EuGH, Urteil vom 25. Juli 1991 - C-221/89 [ECLI:EU:C:1991:320], Factortame - Rn. 20; s.a. Urteile vom 12. September 2006 - C-196/04 [ECLI:EU:C:2006:544], Cadbury Schweppes - Rn. 54 und vom 22. November 2018 - C-625/17 [ECLI:EU:C:2018:939], Vorarlberger Landesund Hypothekenbank AG - Rn. 35). Eine ständige Präsenz im Aufnahmemitgliedstaat muss nicht die Form einer Zweigniederlassung oder Agentur angenommen haben (EuGH, Urteile vom 11. Oktober 2007 - C-451/05, - Rn. 59 und vom 8. September 2010 - C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07 [ECLI:EU:C:2010:504], Stoß u.a. - Rn. 59); sie muss sich aber auf der Grundlage objektiver und nachprüfbarer Anhaltspunkte feststellen lassen, die sich u.a. auf das Ausmaß des greifbaren Vorhandenseins in Form von Geschäfts- räumen, Personal und Ausrüstungsgegenständen beziehen (EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2010 - C-97/09 - Rn. 38).

9 Dagegen sehen die Vorschriften des Kapitels über die Dienstleistungen für den Fall, dass sich der Erbringer einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begibt, vor, dass dieser seine Tätigkeit dort vorübergehend ausübt (vgl. Art. 57 Abs. 3 AEUV; früher: Art. 50 Abs. 3 EG-Vertrag). Soweit die Leistungserbringung in diesem Mitgliedstaat nicht stabil und kontinuierlich ist, sondern vorübergehend bleibt, fällt dies weiterhin unter die Vorschriften des Kapitels über die Dienstleistungen (EuGH, Urteile vom 13. Februar 2003 - C-131/01 [ECLI:EU:C:2003:96], Kommission/Italien - Rn. 23 und vom 11. Dezember 2003 - C-215/01 - Rn. 27). Diese erfassen alle Dienstleistungen, die nicht in stabiler und kontinuierlicher Weise von einem Berufsdomizil/einer Niederlassung im Empfängermitgliedstaat aus angeboten werden (EuGH, Urteile vom 29. April 2004 - C-171/02 [ECLI:EU:C:2004:270], Kommission/Portugal - Rn. 25, vom 10. Mai 2012 - C-357/10 bis 359/10 [ECLI:EU:C:2012:283], Duomo Gpa u.a. - Rn. 31 und vom 19. Juli 2012 - C-470/11 [ECLI:EU:C:2012:505], SIA Garkalns - Rn. 27). Dabei kommt es nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH für den vorübergehenden Charakter der Tätigkeiten im Aufnahmemitgliedstaat nicht nur auf die Dauer der Leistung, sondern auch auf ihre Häufigkeit, regelmäßige Wiederkehr oder Kontinuität an und schließt der vorübergehende Charakter der Leistung für den Dienstleistenden nicht die Möglichkeit aus, sich im Aufnahmemitgliedstaat mit einer bestimmten Infrastruktur (einschließlich eines Büros, einer Praxis oder einer Kanzlei) auszustatten, soweit diese Infrastruktur für die Erbringung der fraglichen Leistung erforderlich ist (EuGH, Urteil vom 30. November 1995 - C-55/94 - Rn. 26 f.; s.a. Urteile vom 12. Dezember 1996 - C-3/95 - Rn. 21 und vom 11. Dezember 2003 - C-215/01 - Rn. 28). Der Begriff "Dienstleistung" kann somit Dienstleistungen ganz unterschiedlicher Art umfassen, einschließlich solcher, deren Erbringung sich über einen längeren Zeitraum, bis hin zu mehreren Jahren, erstreckt, z.B., wenn es sich um Dienstleistungen handelt, die im Rahmen eines Großbauprojekts erbracht werden. Auch Leistungen, die ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Wirtschaftsteilnehmer mehr oder weniger häufig oder regelmäßig, auch über einen längeren Zeitraum, für Personen erbringt, die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, können Dienstleistungen sein, etwa die entgeltliche Beratung oder Auskunftserteilung. Das Unionsrecht enthält keine Vorschrift, die eine abstrakte Bestimmung der Dauer oder Häufigkeit ermöglicht, ab der die Erbringung einer Dienstleistung oder einer bestimmten Art von Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat nicht mehr als eine Dienstleistung angesehen werden kann. Folglich reicht allein die Tatsache, dass ein in einem Mitgliedstaat niedergelassener Wirtschaftsteilnehmer gleiche oder ähnliche Dienstleistungen mehr oder weniger häufig oder regelmäßig in einem anderen Mitgliedstaat erbringt, ohne dass er dort über eine Infrastruktur verfügt, die es ihm erlauben würde, in diesem Mitgliedstaat in stabiler und kontinuierlicher Weise einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, nicht aus, um ihn als in diesem Mitgliedstaat niedergelassen anzusehen (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2003 - C-215/01 - Rn. 30 bis 32; s.a. Urteile vom 10. Mai 2012 - C-357/10 bis 359/10 - Rn. 32, vom 19. Juli 2012 - C-470/11 - Rn. 28 und vom 30. April 2014 - C-475/12 [ECLI:EU:C:2014:285], UPC DTH Sàrl - Rn. 74 f.). [...]