VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 15.05.2019 - AN 1 K 16.31088 - asyl.net: M27532
https://www.asyl.net/rsdb/M27532
Leitsatz:

Zustellungsvorschriften im Widerrufsverfahren/Voraussetzungen für den Widerruf des Familienflüchtlingsschutz:

1. Im asylrechtlichen Widerrufsverfahren finden die besonderen Zustellungsvorschriften des § 10 AsylG keine Anwendung. Die Zustellung erfolgt nach den Vorschriften des Verwaltungszustellunggesetzes.

2. Die unwirksame Zustellung wird auch nicht durch eine formlose Mitteilung der Ausländerbehörde per Email geheilt, dass der Schutzstatus widerrufen worden sei. Der Zustellungsangel wurde erst durch Übermittlung eines Aktenauszugs (einschließlich einer Kopie des Bescheids) an die bevollmächtigten Rechtsanwalt geheilt.

3. Der Familienflüchtlingsschutz erlischt automatisch weder durch einen längeren Auslandsaufenthalt noch durch Kontaktabbruch zu den stammberechtigten Familienangehörigen oder durch Ablauf des internationalen Reiseausweises. Eine konkludente Verzichtserklärung muss eindeutig und unmissverständlich sein, da der Verzicht zu einem unmittelbaren und endgültigen Verlust des Schutzstatus führt.  

4. Der Widerruf des Familienflüchtlingsschutz erfolgt ausschließlich nach den besonderen Vorschriften des § 73 Abs. 2b AsylG.

5. Insbesondere ist die inzwischen eingetretene Volljährigkeit einer schutzberechtigten Person (also der nachträgliche Fortfall der speziellen Voraussetzungen des § 26 AsylG) kein Widerrufsgrund.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienflüchtlingsschutz, Widerruf, Auslandsaufenthalt, Verzicht, Zustellungsmangel, Zustellung, Volljährigkeit, Familienasyl,
Normen: AsylG § 73 Abs. 2b, AsylG § 10, AsylG § 26,
Auszüge:

[...]

Die Beklagte konnte sich insbesondere nicht auf § 10 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AsylG berufen, der grundsätzlich wirksame Zustellungen an die zuletzt bekannte Anschrift ermöglicht. In zeitlicher Hinsicht ist der Anwendungsbereich der Vorschrift auf die Dauer des Asylverfahrens sowie etwaiger Folgeverfahren (§ 71 Abs. 3 Satz 4 AsylG), die eine Anerkennung zum Ziel haben, beschränkt. Demgegenüber findet § 10 AsylG auf Verfahren nach den §§ 73 ff. AsylG weder nach Wortlaut noch nach Systematik unmittelbar oder entsprechend Anwendung (BayVGH, U.v. 11.1.2010 - 9 B 08.30223 - juris Rn. 15). Im Anwendungsbereich von §§ 73 ff. AsylG ist das Verfahren bereits abgeschlossen und dauert nicht mehr i.S.d. § 10 AsylG an. Zudem ist das Widerrufsverfahren auf die Beseitigung von Asyl gerichtet.

Demnach bestimmt sich die Zustellung nach den Vorschriften des VerwaltungszustelIungsgesetzes, § 73 Abs. 5 AsylG.

Die von der Beklagten gewählte Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde (§ 3 VwZG) war unwirksam und konnte daher die Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG nicht in Lauf setzen. Gemäß der Zustellungsurkunde wurde der Bescheid am 14. August 2015 zu übergeben versucht. Weil die Übergabe des Bescheides nicht möglich war, wurde dieser in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt, § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG, §§ 178 Abs. 1 Nr. 1, 180 Satz 1 ZPO. Für eine Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde ist es jedoch zwingend, dass eine Wohnung tatsächlich besteht und der Adressat dort seinen Lebensmittelpunkt hat (BGH, U.v. 16.6.2011 - III ZR 342/09 - juris Rn. 13) Die Klägerin hatte jedoch nach positiver Kenntnis der Beklagten keinen Wohnsitz mehr in der Bundesrepublik Deutschland, weshalb die Zustellung unwirksam war.

Die unwirksame Zustellung wurde erst mit Wirkung zum 5. September 2018 geheilt, § 8 VwZG. Für eine Heilung kann nicht bereits auf den 27. August 2018 abgestellt werden, da der anwaltliche Bevollmächtigten der Klägerin lediglich von dem Landratsamt ... per E-Mail darüber informiert worden war, dass die Beklagte die Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte am 29. August 2015 widerrufen bzw. zurückgenommen habe. Die für eine Heilung erforderliche Übermittlung des Bescheides lag jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor. Nach dem unwidersprochenen Vortrag des anwaltlichen Bevollmächtigten der Klägerin hat der anwaltliche Bevollmächtigte der Klägerin erst am 5. September 2018 im Wege der Akteneinsicht den streitgegenständlichen Bescheid erhalten, als ihm von der Beklagten ein Ausdruck der Behördenakte in Papierform übermittelt wurde. Für eine Heilung nach § 8 VwZG ist es ausreichend, dass eine Kopie des Bescheides in den Behördenakten enthalten war (BVerwG, U.v. 18.4.1997 -, 8 C 43.95 - juris Rn. 29). Die Klagefrist von zwei Wochen endete daher am 19. September 2018 (Mittwoch; § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1, 2 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Demnach war die am 14. September 2018 bei Gericht eingegangene Klage nicht verfristet. [...]

1. Soweit die Beklagte in ihrem Bescheid ausführt, dass die Klägerin erkennbar den asylrechtlichen Schutz aufgegeben habe, ist es aus Sicht der erkennenden Kammer erforderlich klarzustellen, dass die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft der Klägerin nicht kraft Gesetzes erloschen ist, § 72 Abs. 1 AsylG.

Die Beklagte führt in dem Bescheid aus, dass die Klägerin seit dem 1. Januar 2014 unbekannt verzogen und ihr Reiseausweis abgelaufen sei. Zudem bestehe kein Kontakt mehr zur in Deutschland lebenden Familie, weshalb keine berücksichtigungsfähigen sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland existieren würden. Ohne dies explizit in dem Bescheid auszuführen, könnte ein Verzicht i.S.d. § 72 Abs. 1 Nr. 4 AsylG vorliegen. Mangels ausdrücklicher Verzichtserklärung käme allenfalls ein konkludent erklärter Verzicht in Betracht, der jedoch aus Sicht der erkennenden Kammer hier nicht angenommen werden kann.

Ein Verzicht hat weitreichende Folgen, da er zu einem unmittelbaren und endgültigen Verlust des erlangten Schutzstatus führt. Vor diesem Hintergrund müssen die Anforderungen an die Eindeutigkeit der Verzichtserklärung hoch sein. Ihr muss sich unmissverständlich der Wille des Ausländers entnehmen lassen, die erworbene Rechtsstellung als Asylberechtigter bzw. als anerkannter Flüchtling aufzugeben und nicht erneut geltend machen zu wollen.

Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Auch ein langjähriger Aufenthalt in einem anderen Staat, ohne dass die Voraussetzungen des § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylG vorliegen, reicht dazu nicht aus (OVG NW, U.v. 27.5.2016 - 9 A 653/11.A - juris Rn. 40). Entgegen anderer Auffassung (NdsOVG, U.v. 9.12.1996 - 12 L 2486/96 - juris Rn. 28) kann auch nicht aufgrund weiterer zu einem längeren Auslandsaufenthalt hinzutretender Umstände, wie dem Ablauf eines internationalen Reiseausweises oder dem Abbruch von Beziehungen in die Bundesrepublik Deutschland, von einem Verzicht ausgegangen werden, da dem das Erfordernis der Eindeutigkeit einer Verzichtserklärung entgegensteht. Der fehlende Verzichtswille der Klägerin wird auch dadurch belegt, dass diese nunmehr in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren will. Die Beklagte musste daher von einem Fortbestand des zuerkannten Flüchtlingsstatus der Klägerin nach § 26 Abs. 2 und Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 AsylG ausgehen. [...]

3. Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt ein Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG ebenfalls nicht in Betracht. Demnach sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Einer Anwendung dieser Vorschrift steht bereits entgegen, dass der Klägerin vorliegend Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 2 und Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 AsylG gewährt wurde und sich somit der Widerruf ausschließlich nach der spezialgesetzlichen Regelung des § 73 Abs. 2b Satz 1 bis 3 AsylG bestimmt, der die allgemeine Regelung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG verdrängt (VG Sigmaringen, U.v. 19.7.2006 - A 5 K 107/06 - juris Rn. 20; VG Schleswig-Holstein, U.v. 10.8.2009 - 15 A 173/08 - juris Rn. 21; VG Darmstadt, U.v. 28.11.2011 - 7 K 298/09.DA.A - juris Rn. 17; VG Gelsenkirchen, U.v. 27.3.2012 - 14a K 794/11.A - juris Rn. 93; VG Würzburg, U.v. 14.9.2012 - W 4 K 11.30349 - juris Rn. 30; Hocks/Leuschner in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 73 Rn. 40; Fleuß in BeckOK-AuslR, 21. Ed. 1.2.2019, § 73 AsylG Rn. 36).

Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Familienflüchtlingsschutzes in seinen Voraussetzungen und in seinem Fortbestand grundsätzlich von der originären Asylberechtigung bzw. vom originären Flüchtlingsschutz - hier der Mutter der Klägerin - abhängig ist. Zudem spricht auch die Gesetzesbegründung für dieses Normverständnis (BT-Drs. 16/5065, S. 219).

Auch die zwischenzeitlich eingetretene Volljährigkeit der Klägerin stellt keinen Anwendungsfall des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG dar. Das Familienasyl und der Flüchtlingsschutz beruhen auf der Annahme der Erstreckung der Verfolgungsgefahr auf die weiteren Mitglieder der Kernfamilie eines politisch Verfolgten. Eine solche Verfolgungsgefahr entfällt nicht deshalb, weil das minderjährige Kind, dem Familienflüchtlingsschutz zuerkannt wurde, volljährig wird.

Die erkennende Kammer folgt der abweichenden Auffassung der Beklagten, dass der nachträgliche Fortfall der speziellen Voraussetzungen des § 26 AsylG einen Widerrufsfall darstelle, daher nicht. Auch die von der Beklagten in Bezug genommene Kommentarmeinung (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 73 AsylG Rn 18) stützt deren Auffassung nicht, da dort lediglich ausgeführt wird, dass die spätere Volljährigkeit einen Widerrufsgrund darstellen könnte. Auch das dort zitierte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 25.9.1991 - 9 C 48.91 - juris) vermag hieran nichts zu ändern, da sich dieses auf die Rechtslage nach dem AsylVfG von 1982 bezog, in dem der Widerruf lediglich allgemein in § 16 geregelt war und nicht - wie heute - für den Widerruf des Familienschutzes eine besondere Regelung getroffen wurde. Zudem wird selbst in Rn. 19 der vorgenannten Kommentarfundstelle ausgeführt, dass auch das Erreichen der Volljährigkeit nicht zum Widerruf führen kann. Somit stützt auch der von der Beklagten in Bezug genommene Kommentar deren Auffassung nicht.

Zudem ist die erkennende Kammer der Auffassung, dass der Begriff "ferner" in Satz 2 der Regelung des § 73 Abs. 2b AsylG entweder auf eine alternative Aufzählung zweier in sich abgeschlossener Regelungsbereiche hinweist, so dass in Abs. 1 Satz 1 der Widerruf der originären Statusberechtigung und in Abs. 2b Satz 2 Halbs. 1 der Widerruf der Asylberechtigung nach § 26 AsylG geregelt wird oder lediglich ein Bezug zu den in § 73 Abs. 2b Satz 1 AsylG aufgeführten Widerrufsgründen hergestellt werden sollte. Eine Anwendung von § 73 Abs. 1 AsylG sollte dadurch jedoch nicht ermöglicht werden. Für diese Auslegung spricht auch der Wortlaut der gesetzlichen Regelung des Familienasyls eines Kindes eines anerkannten Elternteils. Denn nach § 26 Abs. 2 AsylG wird für die Gewährung des Familienasyls auf die Minderjährigkeit des Betroffenen "im Zeitpunkt der Antragstellung" abgestellt. Hiernach ist einem Kind eines anerkannten Asylbewerbers auch dann das Asylrecht nach § 26 Abs. 2 AsylG zuzuerkennen, wenn es zwischenzeitlich, also zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamts volljährig (geworden) ist, es jedoch zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig war. Diese Regelung wäre widersinnig, müssten dem während eines Asylverfahrens volljährig gewordenen Asylbewerber dann auf der Grundlage des § 73 AsylG sein Asylrecht bzw. seine Flüchtlingsanerkennung sogleich wieder genommen werden.

Auch der akzessorische Rechtscharakter des Familienasyls bzw. Familienflüchtlingsschutzes spricht dagegen, ihre Beendigung anders als den Beginn seiner Schutzwirkung vom Fortbestand der originären Schutzwirkung loszulösen. Mithin sprechen auch gesetzessystematische und teleologische Gründe dagegen, den nachträglichen Wegfall der speziellen Voraussetzungen des Familienasyls als einen Unterfall der Widerrufsregelung in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu behandeln. Das Erreichen der Volljährigkeit stellt mithin keinen Grund für den Widerruf des Familienasyls bzw. des Flüchtlingsschutzes dar. Der anwaltliche Bevollmächtigte der Klägerin hat in diesem Zusammenhang auch zutreffend auf die Entstehungsgeschichte des Familienasyls hingewiesen. Mit diesem Rechtsinstitut sollte auch die Integration der Familienangehörigen gefördert werden. Dem würde jedoch nicht ausreichend Rechnung getragen, wenn der Eintritt der Volljährigkeit zu einem Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylG berechtigen würde.

Da vorliegend eine Anwendung von § 73 Abs. 1 AsylG nicht in Betracht kommt, bedarf es keiner weiteren Auseinandersetzung, inwieweit dessen Voraussetzungen vorlagen. Weitere Gründe für ein Erlöschen des von ihrer Mutter abgeleiteten Flüchtlingsschutzes der Klägerin sind ebenfalls nicht ersichtlich. [...]