VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 13.08.2019 - 5 B 3516/19 - asyl.net: M27549
https://www.asyl.net/rsdb/M27549
Leitsatz:

Systemische Mängel des italienischen Asylsystems seit Einführung des "Bürgergeldes":

"1. Jedenfalls seit der Einführung des sogenannten "Bürgergeldes" in Italien im März 2019, ist dort in Bezug auf anerkannt Schutzberechtigte von dem Vorliegen systemischer Mängel im Asylsystem auszugehen.

2. Der Umstand, dass anerkannt Schutzberechtigte vom Bezug des "Bürgergeldes" (als Form der Sozialhilfe) faktisch ausgeschlossen sind, stellt einen Verstoß gegen das Gebot der "Inländergleichbehandlung" dar.

3. § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG ist eine Ausnahmevorschrift, deren Anwendung in jedem Fall nachvollziehbar zu begründen ist; eine Abschiebungsandrohung muss auf die Fälle beschränkt bleiben, in denen stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine Abschiebung nicht durchgeführt werden kann."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Italien, systemische Mängel, Inländergleichbehandlung, Bürgergeld, Sozialleistungen, internationaler Schutz in EU-Staat, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

15 Nach diesem Maßstab und unter Berücksichtigung der dem Gericht zugänglichen Erkenntnismittel liegen hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller im Falle seiner Überstellung nach Italien dort aufgrund systemischer Schwachstellen der dortigen Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. des Art. 3 EMRK ausgesetzt sein könnte.

16 Dies ergibt sich daraus, dass anerkannt Schutzberechtigte keinen Zugang zur Sozialhilfe (in Form des sogenannten "Bürgergeldes") haben und ihnen deshalb ein Leben unterhalb des Existenzminimums droht.

17 Das Anfang März 2019 in Italien neu eingeführte "Bürgergeld" i. H. v. (bis zu) 780,- € pro Monat, für dessen Bezug ein Bedürftigkeitsnachweis erforderlich ist und das damit faktisch eine Form der Sozialhilfe darstellt, wird lediglich an italienische Staatsbürger gezahlt oder solche Menschen, die seit mindestens zehn Jahren (davon die letzten zwei kontinuierlich) in Italien wohnen (vgl.: www.redditodicittadinanza.gov.it; Neues Deutschland Online vom 6. März 2019, Italien führt Grundsicherung ein – Das sogenannte Bürgerschaftsgeld ähnelt dem deutschen Hartz IV, www.neuesdeutschland. de/artikel/1113764.buergergeld-italien-fuehrt-grundsicherung-ein.html; Frankfurter Allgemeine Zeitung Online vom 6. März 2019, Neue Sozialleistungen sorgen in Italien für Ansturm, www.faz.net/aktuell/wirtschaft/buergergeld-sorgt-fuer-ansturm-in-italien-16075215.html; Süddeutsche Zeitung Online vom 6. März 2019, Italien führt das Bürgergeld ein, www.sueddeutsche.de/wirtschaft/italiengrundeinkommen-cinque-stelle-1.4357211; Neue Züricher Zeitung Online vom 8. März 2019, Das italienische Bürgergeld ist da, www.nzz.ch/wirtschaft/italiens-regierung-fuehrt-buergergeld-ein-ld.1465569 Tagesschau.de vom 29. April 2019, Bürgergeld in Italien – Sozialpolitische Revolution, www.tagesschau.de/ausland/italien-buergergeld-101.html).

18 Anerkannt Schutzberechtigten steht nach Art. 20ff. Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) – namentlich deren Artikel 29 – und den Wohlfahrtsvorschriften der GFK – namentlich dessen Art. 23 – ein Anspruch auf "Inländergleichbehandlung" zu (vgl.: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 –, Rn. 20, juris; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 31. Juli 2018 – 2 BvR 714/18 –, Rn. 23, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 27. Juni 2013 – 6 K 7204/12.A –, Rn. 27, juris). Das Bundesverfassungsgericht hatte in Bezug auf Griechenland ausgeführt, dass die dort (zum damaligen Zeitpunkt) gewährten Sozialleistungen an einen bis zu 20jährigen legalen Aufenthalt anknüpften, weshalb anerkannt Schutzberechtigte von der Inanspruchnahme dieser Leistungen faktisch ausgeschlossen seien (vgl.: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 –, Rn. 20, juris). Eine vergleichbare Situation liegt auch in Italien in Bezug auf das "Bürgergeld" vor, welches für Menschen, die nicht zuvor einer Beschäftigung nachgegangen sind, den weitaus größten und einzig sicheren Teil  staatlicher Sozialleistungen ausmacht (vgl. zu den übrigen, sehr limitierten und zu großen Teilen nicht garantierten Sozialleistungen die Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, Beschluss vom 6. April 2018 – 10 LB 109/18 –, Rn. 34 - 47, juris). Auch ein zehnjähriger Aufenthalt in Italien als Grundvoraussetzung für den Leistungsbezug dürfte für anerkannt Schutzberechtigte mit einem faktischen Leistungsausschluss gleichzusetzen sein.

19 Mit der Einführung dieses "Bürgergeldes" haben sich die Verhältnisse in Italien derart geändert, dass die zuvor u.a. vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht (Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 6. April 2018, a.a.O., Rn. 47) angenommene Gleichbehandlung von Inländern und anerkannt Schutzberechtigten bei der Gewährung von Sozialleistungen nicht mehr gegeben ist. Vielmehr dürften anerkannt Schutzberechtigte derart von grundlegenden Sozialleistungen ausgeschlossen sein, dass sie – anders als die italienische Bevölkerung – unterhalb des in Italien notwendigen Existenzminimums zu leben gezwungen sind, soweit sie – was aufgrund der Sprachbarriere und häufig fehlender Qualifikation sowie mangelnder sozialer Netzwerke und Familienstrukturen auf viele anerkannt Schutzberechtigte zutreffen dürfte – auf absehbare Zeit keinen Zugang zu einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit erlangen. [...]

34 Die Ungleichbehandlung der anerkannt Schutzberechtigten mit Inländern bei der Gewährung des Bürgergeldes wird auch nicht auf andere Weise ausgeglichen. Andere zur Verfügung stehende Unterstützungsmöglichkeiten dürften nicht ausreichen, um zu verhindern, dass sie häufig ein Leben unterhalb des Existenzminimums fristen müssen. [...]