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VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 13.05.2019 - 3 B 197/19 - asyl.net: M27558
https://www.asyl.net/rsdb/M27558
Leitsatz:

Eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehegatten und sexueller Übergriff auf ein Kind:

"1. Das gemäß § 31 Abs. 2 Satz 3 AufenthG inkorporierte Kindeswohl soll die mit dem Ausländer bzw. der Ausländerin in familiärer Gemeinschaft lebenden Kinder vor nicht hinnehmbaren Übergriffen des Stammberechtigten schützen und verhindern, dass trotz Gefährdung des Kindeswohls an der nach den Maßstäben des § 31 Abs. 2 AufenthG nicht mehr zumutbaren familiären Lebensgemeinschaft festgehalten wird.

2. Erreichen die Störungen der ehelichen oder familiären Lebensgemeinschaft das Ausmaß einer konkreten und über allgemeine Differenzen und Kränkungen in einer gestörten ehelichen Beziehung hinausgehenden psychischen Misshandlung, liegt eine besondere Härte vor.

3. Schutzwürdige Belange des § 31 Abs. 2 AufenthG sind insbesondere die körperliche Integrität, angstfreies Leben in eigener Wohnung und Bewegungsfreiheit. Der besondere Härtefall ist nicht erst bei schwersten Eingriffen in die persönliche Freiheit des Ehepartners oder des Kindes erfüllt. Nach der Gesetzesintension lässt sich eine Beschränkung nur auf gravierende Misshandlungen nicht rechtfertigen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Ehegattennachzug, eigenständiges Aufenthaltsrecht, eheunabhängiges Aufenthaltsrecht, besondere Härte, Kindeswohl, sexuelle Belästigung,
Normen: AufenthG § 31 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Gemäß § 31 Abs. 2 AufenthG ist von der Anforderung des dreijährigen rechtmäßigen Bestandes der ehelichen Lebensgemeinschaft zum Erhalt eines eigenständigen Aufenthaltsrechtes abzusehen, soweit es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, dem Ehegatten den weiteren Aufenthalt zu ermöglichen, es sei denn, für den Ausländer ist die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen. Eine besondere Härte liegt unter anderem vor, wenn dem Ehegatten wegen der Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar ist. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn der Ehegatte Opfer häuslicher Gewalt ist. Zu den schutzwürdigen Belangen zählt auch das Wohl eines mit dem Ehegatten in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kindes.

Das kraft ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung gem. § 31 Abs. 2 Satz 3 AufenthG inkorporierte Kindeswohl soll die mit dem Ausländer bzw. der Ausländerin in familiärer Gemeinschaft lebenden Kinder vor nicht hinnehmbaren Übergriffen des Stammberechtigten schützen und verhindern, dass trotz Gefährdung des Kindeswohl an der nach den Maßstäben des § 31 Abs. 2 AufenthG nicht mehr zumutbaren familiären Lebensgemeinschaft festgehalten wird, um das abgeleitete Aufenthaltsrecht nicht zu verlieren. Insbesondere Misshandlungen einschließlich sexueller Übergriffe durch den Stammberechtigten können eine inlandsbezogene besondere Härte begründen, wobei es Ziel der gesetzgeberischen Reform im Jahr 2000 gewesen ist, diesen zuvor in der Rechtsprechung kontrovers und überwiegend restriktiv gehandhabten Härtegrund einer angemessenen und der besonderen Situation der betroffenen Ehefrauen - und den in familiärer Lebensgemeinschaft mit diesen lebenden Kindern - gerecht werdenden gesetzlichen Regelung zuzuführen (vgl. Marx in GK-AufenthG, Kommentar, Band 2, Stand: Juni 2017, § 31 Rdnr. 73 unter Verweis auf VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 04.06.2003 - 13 S 2685/02 - juris). Allerdings stellt nicht jede Form subjektiv empfundener Unzumutbarkeit zugleich eine besondere Härte im Sinne des § 31 Abs. 2 AufenthG dar. Nicht in jedem Fall des Scheiterns einer ehelichen Lebensgemeinschaft, zu dem es in aller Regel wegen der von einem oder beiden Ehegatten subjektiv empfundenen Unzumutbarkeit des Festhaltens an der Lebensgemeinschaft kommt, sind die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt. Gelegentliche Ehestreitigkeiten, Auseinandersetzungen, grundlose Kritik und Kränkungen, die in einer Vielzahl von Fällen eine Trennung bewirken können, machen für sich genommen noch nicht das Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar. Erreichen die Störungen der ehelichen oder familiären Lebensgemeinschaft jedoch das Ausmaß einer konkreten und über allgemeine Differenzen und Kränkungen in einer gestörten ehelichen Beziehung hinausgehenden psychischen Misshandlung, liegt eine besondere Härte vor. Die schutzwürdigen Belange des ausländischen Ehegatten sind in diesem Zusammenhang insbesondere die körperliche Integrität, angstfreies Leben in eigener Wohnung und Bewegungsfreiheit. Der besondere Härtefall ist nicht erst bei schwersten Eingriffen in die persönliche Freiheit des Ehepartners (oder des Kindes) erfüllt. Nach der Gesetzesintention lässt sich eine Beschränkung nur auf gravierende Misshandlungen nicht rechtfertigen (Marx in GK-AufenthG, a.a.O., § 31 Rdnr. 76 mit Rechtsprechungsnachweisen). Maßgebend ist dabei eine objektive Bewertung. Es kommt nicht allein darauf an, ob der nachgezogene Ehegatte die eheliche Lebensgemeinschaft wegen einer aus seiner Sicht bestehenden Unzumutbarkeit aufgelöst hat. Der Rückgriff auf den Begriff der besonderen Härte erfordert eine Gesamtabwägung aller Umstände (vgl. Marx, GK-AufenthG, a.a.O., § 31 Rdnr. 80). [...]