VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 19.07.2019 - A 10 K 15283/17 - asyl.net: M27567
https://www.asyl.net/rsdb/M27567
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für eine Frau aus Türkei, die sich der Zwangsverheiratung widersetzt hat:

1. Frauen, die sich in der Türkei einer Zwangsheirat widersetzt haben und eine "Liebesehe" eingegangen sind, gehören keiner bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an, obwohl ihnen aufgrund ihrer Verweigerung der Zwangsehe Menschenrechtsverletzungen drohen. (Anm. d. Red.: Mehrheitlich wird jedoch in der Rechtsprechung davon ausgegangen, dass eine Zwangsheirat eine an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung darstellt, siehe Giesler/Hoffmeister, Asylmagazin 12/2019).

2. Trotz partieller Verschlechterungen seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 ist weder von einer Gruppenverfolgung kurdischer Volkszugehöriger noch von einer Verfolgung aufgrund der Asylantragsstellung im Ausland auszugehen.

3. Systematische Bedrohungen und Gewalttaten aufgrund der verweigerten Zwangsheirat können im Einzelfall jedoch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus rechtfertigen, da der türkische Staat Frauen nur teilweise Schutz vor familiärer Gewalt bietet. Dies ist hier für eine jungen Kurdin ohne Schul- und Berufsausbildung mit zwei Kleinkindern, der im Falle ihrer Rückkehr weder ein sie unterstützender Ehemann noch ein soziales Netzwerk zur Seite stünde, der Fall.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Frauen, Türkei, Kurden, Zwangsehe, subsidiärer Schutz, soziale Gruppe, Existenzminimum, Schutzbereitschaft, Asylantrag,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, AsylG § 4 Abs. 3, AsylG § 3c, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

15 I. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

26 c) Die jahrelangen Bedrohungen der Klägerin Ziff. 1 und ihre Vergewaltigung unmittelbar vor ihrer Ausreise stellen ebenfalls keine Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU dar. Zwar ist insoweit ein zeitlicher und kausaler Zusammenhang zur Ausreise gegeben. Die genannte Verfolgung der Klägerin Ziff. 1 knüpft aber nicht an ein Verfolgungsmerkmal im Sinne des Art. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2011/95/EU an, insbesondere nicht an die Zugehörigkeit der Klägerin Ziff. 1 zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

27 aa) Frauen, welche sich einer von ihrer Familie arrangierten Zwangsheirat widersetzt und stattdessen einen Mann ihrer Wahl geheiratet haben, haben vorbehaltlich besonderer Umstände des konkreten Einzelfalles keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da sie keiner bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des Art. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2011/95/EU - welcher mit § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG insoweit identisch ist - angehören. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn diese Frauen in der Türkei nach ihrer Eheschließung von ihren Familienangehörigen über Jahre hinweg (weiterhin) systematisch bedroht und Opfer von Gewalttaten wurden (vgl. VG Berlin, Urteil vom 24.05.2017 - 36 K 216.16 A -, juris Rn. 22; wohl a.A. VG Chemnitz, Urteil vom 20.12.2016 - 4 K 2612/14.A -, S. 14, juris; Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 18.12.2014 - 8 A 36/13 -, S. 7, juris). Denn die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe setzt voraus, dass die Gruppe innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft bestimmbar ist und eine fest umrissene Identität aufweist. Die Gruppe muss aufgrund ihres internen Merkmals von der sie umgebenden Gesellschaft deutlich abgegrenzt sein. Für die Fragen, ob bestimmte Merkmale einer Gruppe zugeschrieben werden und ob sich die Gruppe aufgrund dieser Zuschreibung von der Gesellschaft insgesamt unterscheidet, kann es nur auf die Sichtweise der übrigen Gesellschaft ankommen (Marx, AsylG, 9. Auflage 2017, § 3b Rn. 21; vgl. Möller, in: Hofmann, AuslR, 2. Auflage 2016, § 3b AsylVfg/ AsylG, Rn. 10). Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) 2. Spiegelstrich der Richtlinie 2011/95/EU - welcher mit § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b) AsylG identisch ist - bestimmt dementsprechend, dass eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe gilt, wenn bestimmte, hier einschlägige Voraussetzungen erfüllt sind und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. An dieser zuletzt genannten Voraussetzung fehlt es in der hier erörterten Fallkonstellation. Zwar wird die unmittelbare Familie, von der die Bedrohung ausgeht, die betroffenen Frauen regelmäßig als andersartig betrachten. Ob dies auch für die die Frauen umgebende Gesellschaft gilt, lässt sich aber allenfalls im Einzelfall feststellen. [...]

34 2. Den demnach unverfolgt aus der Türkei ausgereisten Klägern droht im Falle ihrer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG. Ausweislich den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln ist trotz des Umstands, dass sich die politische Lage in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch von Sommer 2016 erheblich verschlechtert hat (vgl. allgemein zur Lage in der Türkei VG Karlsruhe, Urteil vom 20.07.2017 - A 10 K 3981/16 -, juris Rn. 41 ff.; zur im Wesentlichen unverändert fortbestehenden Lage nach dieser Entscheidung Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt zur Staatendokumentation, Türkei, 28.01.2019, S. 5 ff.; Human Rights Watch, World Report 2019 - Turkey, 17.01.2019; Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 03.08.2018, S. 4 ff., 17 ff., 23, 27, 32; Amnesty International, Türkei 2017/2018, 22.02.2018), nicht davon auszugehen, dass den Klägern im Falle ihrer Abschiebung in die Türkei Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG drohen. Die erforderliche Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit lässt sich weder auf den Umstand stützen, dass die Klägerin Ziff. 1 von weiten Teilen ihrer Familie weiterhin geächtet wird (hierzu unter a), noch auf ihre kurdische Volkszugehörigkeit (hierzu unter b) oder ihre Asylantragstellung in Deutschland (hierzu unter c).

35 a) Die zu erwartende erneute Verfolgung der Klägerin durch ihre Familienangehörigen knüpft an kein Verfolgungsmerkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG an, insbesondere nicht an die Zugehörigkeit der Klägerin zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Die obigen Ausführungen unter 1. c) gelten an dieser Stelle entsprechend. Die nationale Vorschrift des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b) AsylG ist mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) 2. Spiegelstrich der Richtlinie 2011/95/EU identisch.

36 Ob türkische Frauen begründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG haben, sofern sie nach ihrer Rückkehr in die Türkei (weiterhin) zwangsverheiratet werden sollen, braucht im vorliegenden Verfahren nicht entschieden zu werden. Der Klägerin Ziff. 1 droht zwischenzeitlich keine Zwangsverheiratung mehr. Sie ist, was ihren Angehörigen auch bekannt ist, bereits verheiratet und Mutter zweier Kinder. [...]

37 b) Kurden droht im Falle ihrer Abschiebung in die Türkei keine asylrechtlich relevante Verfolgung aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit. Die Rechtsprechung geht einhellig davon aus, dass Kurden in der Türkei keiner Gruppenverfolgung (allgemein zu den Maßstäben für eine Gruppenverfolgung BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 13 ff.) ausgesetzt sind (Bayer. VGH, Beschluss vom 26.10.2018 - 9 ZB 18.32678 -, juris Rn. 9; Beschluss vom 03.06.2016 - 9 ZB 12.30404 -, juris Rn. 5 f.; Sächs. OVG, Urteil vom 28.05.2018 - 3 A 120/18.A -, juris Rn. 8, Urteil vom 07.04.2016 - 3 A 557/13.A -, juris Rn. 31; Urteil vom 08.07.2010 - A 3 A 503/07 -, juris Rn. 45; OVG NRW, Beschluss vom 29.07.2014 - 8 A 1678/13.A -, juris Rn. 10; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.08.2013 - A 12 S 2023/11 -, juris Rn. 18 f., 37; Urteil vom 09.02.2006 - A 12 S 1505/04 -, juris Rn. 17; VG Augsburg, Urteil vom 26.09.2018 - Au 6 K 18.30989 -, juris Rn. 31; Urteil vom 04.09.2018 - Au 6 K 18.31181 -, juris Rn. 33 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 20.07.2017 - A 10 K 3981/16 -, juris Rn. 53, VG Aachen, Urteil vom 23.01.2017 - 6 K 548/16.A -, juris Rn. 44). Die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel zur Lage in der Türkei nach dem Putschversuch vom Sommer 2016 (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt zur Staatendokumentation Türkei, 28.01.2019, S. 68 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 03.08.2018, S. 13; Auskunft an das VG Karlsruhe vom 09.05.2017, S. 1 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gefährdung bei Rückkehr von kurdischstämmigen Personen mit oppositionspolitischem Engagement und möglichen Verbindungen zur PKK, 07.07.2017, S. 11; Auskunft an das VG Karlsruhe vom 17.02.2017, S. 3) bestätigen diese Einschätzung der bisherigen Rechtsprechung. Soweit in einem Teil der Erkenntnismittel zur Türkei darauf hingewiesen wird, dass die türkischen Behörden Kurden zum Teil diskriminierten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft an das VG Karlsruhe vom 17.02.2017, S. 3 ff.), rechtfertigt dies keine andere Bewertung. Denn als asylrelevante (Gruppen-) Verfolgung gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Marx, AsylG, 9. Auflage 2017, § 3a Rn. 9 m.w.N.). Im Fall der - unbestritten vorkommenden - Diskriminierung von Kurden fehlt es an einer derartigen Eingriffsintensität und Verfolgungsdichte.

38 c) Türkischen Staatsangehörigen, deren Asylantrag in Deutschland abgelehnt wurde, droht im Falle ihrer Abschiebung in die Türkei schließlich auch keine asylrechtlich relevante Verfolgung aufgrund ihrer Asylantragstellung. Erneut kann auf die ständige Rechtsprechung (Sächs. OVG, Urteil vom 07.04.2016 - 3 A 557/13.A -, juris Rn. 34; OVG NRW, Beschluss vom 29.07.2014 - 8 A 1678/13.A -, juris Rn. 10; VGH Bad.- Württ., Urteil vom 27.08.2013 - A 12 S 2023/11 -, juris Rn. 18 f.; VG Augsburg, Urteil vom 26.09.2018 - Au 6 K 18.30989 -, juris Rn. 59 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 20.07.2017 - A 10 K 3981/16 -, juris Rn. 54; VG Aachen, Urteil vom 23.01.2017 - 6 K 548/16.A -, juris Rn. 44) verwiesen werden. Auch insoweit lässt sich den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt zur Staatendokumentation, Türkei, 28.01.2019, S. 92.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Karlsruhe vom 09.05.2017, S. 1; Amnesty International, Auskunft an das VG Karlsruhe vom 27.01.2016, S. 1; Taylan, Auskunft an das VG Karlsruhe vom 15.12.2015, S. 9; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Karlsruhe vom 09.12.2015, S. 1) nicht entnehmen, dass sich die Situation in der Türkei jüngst verschlechtert hat. Zwar wird teilweise darauf hingewiesen, dass Personen, aus deren Papieren zu schließen sei, dass sie im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, besonders überprüft würden. Dies könne eine Anfrage bei der Polizei des Heimatortes umfassen und bedeuten, dass diese Personen vorübergehend festgenommen würden, bis die entsprechende Auskunft vorliege. Fälle von Folter sollen in diesem Zusammenhang aber nicht bekannt geworden sein (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 03.08.2018, S. 31; Amnesty International, Auskunft an das VG Karlsruhe vom 27.01.2016, S. 1; vgl. bereits Aydin, Auskunft an das VG Darmstadt vom 02.06.2011, S. 4).

39 II. Die Kläger haben jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. [...]

44 1. Den Klägern droht im Falle ihrer Rückkehr nach XXX (vgl. zu dem Ort, an den Kläger typischerweise zurückkehren würden, als Anknüpfungspunkt für diese Gefahrenprognose: BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris Ls. 1, Rn. 13; Beschluss vom 14.11.2012 - 10 B 22.12 -, juris Rn. 7) mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG. [...]

46 Gemessen an diesen Grundsätzen droht den Klägern im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Die Klägerin Ziff. 1 wurde, wie dargelegt, von einem Großteil ihrer Verwandten jahrelang systematisch bedroht und terrorisiert. Ihr angedachter Ehemann hat sie zuletzt sogar vergewaltigt, um seinem Besitzstreben Ausdruck zu verleihen. Die jahrelangen Bedrohungen, welche in der Vergewaltigung einen Gipfel erreichten, stellen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG dar (a.A. möglicherweise VG Berlin, Urteil vom 24.05.2017 - 36 K 216.16 A -, juris Rn. 22 ff.). Der Umstand, dass die Verwandten die Kläger nicht töten wollen dürften, was man wohl daraus folgern kann, dass die Verwandten in der Vergangenheit mehrere Möglichkeiten hierzu ungenutzt haben verstreichen lassen, rechtfertigt mit Blick auf die psychisch höchst belastenden dauernden Bedrohungen und die Schwere von Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung insoweit keine andere Bewertung. Die Ausdauer, mit der die Verwandten die Klägerin Ziff. 1 in der Vergangenheit bedroht haben - sowohl in der Türkei, als auch, freilich nur indirekt und mit geringerer Intensität, in Deutschland -, lässt es als fast sicher erscheinen, dass die Klägerin Ziff. 1 im Falle ihrer Rückkehr erneut mit ständigen, nicht nachlassenden Drohungen bis hin zu Misshandlungen und einer erneuten Vergewaltigung zu rechnen hätte. Für den Kläger Ziff. 2 gilt Ähnliches, nachdem er aus der Ehe der Klägerin Ziff. 1 mit einem von der Familie nicht ausgewählten Ehemann hervorgegangen ist.

47 2. Die den Klägern drohende erneute unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung geht auch von einem relevanten Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG aus.

48 Die zu erwartende Bedrohung der Kläger rechtfertigt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, obwohl sie nicht von einem staatlichen Akteur ausgeht, sondern von Privatpersonen. Denn es ist mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der türkische Staat die Kläger im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei nicht effektiv gegen die ihnen erneut drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung schützen wird.

49 Wie den oben zitierten Erkenntnismitteln zu entnehmen ist, ist der türkische Staat grundsätzlich willig, Schutz vor familiärer Verfolgung zu bieten. Er hat hierzu eine Reihe von Maßnahmen ergriffen und in den letzten Jahren weiter ausgebaut. Frauen und Männer sind vor dem Gesetz weitgehend gleichgestellt. Die Gesetzesvorschriften, die Blutrache- und Ehrenmordtaten betreffen, sind verschärft worden. Es gibt Frauenhäuser und Telefon-Hotlines für Betroffene. Ob diese Maßnahmen hinreichend wirksam sind, um Frauen effektiv vor möglichen Misshandlungen zu schützen, lässt sich nicht pauschal beantworten, bedarf vielmehr einer Würdigung aller konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles (Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 18.12.2014 - 8 A 36/13 -, S. 7, juris; vgl. VG des Saarlandes, Urteil vom 24.11.2010 - 6 K 90/11 -, Ls. 2, juris; a.A. VG Bremen, Urteil vom 25.01.2013 - 2 K 922/11.A -, Ls., juris). So kann etwa davon ausgegangen werden, dass gut ausgebildete und/ oder gut vernetzte Frauen die gegebenen Schutzmöglichkeiten in Anspruch nehmen können. Im Fall der Kläger gilt Anderes.

50 Die Kläger wären im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei aller Voraussicht nach innerhalb kürzester Zeit gezwungen, ihre Verwandten, von denen die Bedrohung ausgeht, um materielle und/ oder sonstige Unterstützung zu bitten, um ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Frauen werden, wie oben dargelegt, in der patriarchalisch geprägten türkischen Gesellschaft weitgehend diskriminiert (vertiefend Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei, 23.10.2013, S. 17 ff.). Dies gilt insbesondere für den Arbeitsmarkt. [...] Im Fall der Kläger kommen mehrere erschwerende Umstände hinzu, welche kumulativ zu ihren Lasten wirken. Zum einen verfügt die Klägerin Ziff. 1 weder über eine Schul-, noch über eine Berufsausbildung. Zum anderen läuft sie auf dem türkischen Arbeitsmarkt auch aufgrund ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit Gefahr, diskriminiert zu werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Sozioökonomische Situation rückkehrender Kurdinnen ohne soziales Netzwerk, 26.11.2015, S. 4 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei, 23.10.2013, S. 18 f.). Weiter ist zu berücksichtigen, dass sich die Klägerin Ziff. 1 um zwei Kleinkinder zu kümmern hat. Dass sie in der Türkei auf staatliche Kinderbetreuungseinrichtungen wird zurückgreifen können, ist unwahrscheinlich. [...] Schließlich unterscheidet sich die Situation der Kläger des vorliegenden Verfahrens insofern wesentlich von der Situation anderer Asylbewerber, als der Klägerin Ziff. 1 trotz ihrer Liebesheirat kein Ehemann mehr an der Seite steht, der sie unterstützen kann. Der Ehemann ist, wie durch ärztliche Atteste glaubhaft gemacht wurde, an Krebs erkrankt und liegt in der Schweiz in einer Paliativstation im Sterben. Über ein soziales Netzwerk, welches sie in der Türkei nachhaltig unterstützen könnte, verfügen die Kläger nicht. [...]

51 3. Die Kläger haben auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG. [...]