OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 30.07.2019 - 9 LB 133/19 - asyl.net: M27573
https://www.asyl.net/rsdb/M27573
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung irakischer Yeziden in Sindjar (Ninive):

"1. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Sindjar in der irakischen Provinz Ninive ist derzeit nicht beachtlich wahrscheinlich.

2. Dies gilt selbst dann, wenn man annimmt, dass Yeziden angesichts der Übernahme der territorialen Herrschaft des IS im Distrikt Sindjar im Sommer 2014 und der damit einhergehenden Übergriffe auf die yezidische Bevölkerung vor ihrer Ausreise von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen sind. Die dadurch begründete Verfolgungsvermutung wäre widerlegt, weil sich die Machtverhältnisse im Irak zwischenzeitlich entscheidend verändert haben und daher stichhaltige Gründe gegen eine erneute Gruppenverfolgung sprechen.

3. Die seit dem vollständigen Verlust seines territorialen Herrschaftsgebietes im Irak ausgeübten Aktivitäten des IS rechtfertigen aktuell ebenfalls nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sindjar."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Yeziden, Irak, Sindjar, Ninive, Gruppenverfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

52 II. Allein die Zugehörigkeit des Klägers zu der Glaubensgemeinschaft der Yeziden lässt seine Verfolgung in Anknüpfung an ein Merkmal i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei seiner Rückkehr in den Irak derzeit nicht als beachtlich wahrscheinlich erscheinen. [...]

61 1. Eine staatliche Verfolgung von Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft durch den irakischen Zentralstaat wegen deren Religionszugehörigkeit findet im Irak nicht statt (so bereits Urteil des Senats vom 19.3.2007 – 9 LB 373/06 – juris Rn. 36). [...]

68 2. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sindjar i.S.v. § 3 AsylG durch die Terrormiliz IS ist derzeit ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.

69 a) Dies gilt selbst dann, wenn man zu Gunsten des Klägers annimmt, dass er – angesichts der Übernahme der territorialen Herrschaft des IS im Distrikt Sindjar im Sommer 2014 und der damit einhergehenden Übergriffe auf die yezidische Bevölkerung, deren Opfer er nach seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung selbst gewesen ist – bereits vor seiner Ausreise aus dem Irak als Yezide aus dem Distrikt Sindjar von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen ist. Die dadurch begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, wäre im Fall des Klägers widerlegt. Es sprechen nach der Überzeugung des Senats stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Gruppenverfolgung bedroht wird, da sich die Machtverhältnisse im Irak zwischenzeitlich entscheidend verändert haben.

70 aa) Die flächendeckenden Übergriffe auf Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft im Distrikt Sindjar durch Mitglieder des IS wurde erst durch die Eroberung des Gebietes durch die Terrororganisation im Sommer 2014 ermöglicht. Mit der damaligen Entscheidung, die zu der Zeit dort als Sicherheitskräfte anwesenden Peschmerga zurückzuziehen, wurden die Yeziden dem IS schutzlos ausgeliefert. Die Terrororganisation stürmte am 3. August 2014 das zuvor von Kurden kontrollierte und von der yezidischen Minderheit bewohnte Gebiet im Distrikt Sindjar (vgl. International Crisis Group (ICG), Arming Iraq's Kurds: Fighting IS, Inviting Conflict, 12.5.2015, S. 2). Nicht allen Menschen gelang die Flucht in die kurdisch verwaltete Region im Nordirak. Insbesondere Menschen, die nicht über Autos verfügten, wurden von IS-Kämpfern festgehalten, umgebracht oder entführt (vgl. Europäisches Zentrum für Kurdische Studien (EZKS), Gutachten zum Erhebungsersuchen Nord-Irak vom 14.1.2015, S. 6). Vermutlich mehrere tausend Einwohner sind dabei getötet und vertrieben worden, einige konnten auf den Jabal Sindjar fliehen, andere wurden gefangen genommen (vgl. Médecins Sans Frontières (MSF), One year after fleeing violence, families in northern Iraq still live in uncertainty, 3.8.2015). In der Zeit, in der die Terrorgruppe die Herrschaftsgewalt über den Sindjar ausübte, kam es zu Hinrichtungen, Entführungen, Zwangskonvertierungen, Vergewaltigungen, Versklavungen, Zwangsverheiratungen, Zwangsabtreibungen, Menschenhandel, Rekrutierung von Kindersoldaten, Zwangsvertreibungen und Massenmord (vgl. UNHCR, UNHCR position on returns to Iraq, 14.11.2016, S. 4; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 7.2.2017, S. 12). Nach Auffassung des UNHRC ("They Came to Destroy": ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 1) hat der IS während seiner Herrschaftszeit im Sindjar an den Yeziden einen Völkermord begangen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verübt.

71 bb) Die Machtverhältnisse im Irak haben sich in der Zwischenzeit grundlegend geändert. Der IS hat sein Herrschaftsgebiet im Irak nahezu vollständig verloren (aktuelle Karte zu den Machtverhältnissen im Irak unter isis.liveuamap.com/). Er hält dort kein Territorium mehr (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Kakai, Verfolgung und Diskriminierung, staatlicher Schutz, Religionsfreiheit, Niederlassung im Nordirak, 13.12.2018, S. 2 m.w.N.). Die Städte Sindjar und Ramadi wurden bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.2.2016, S. 7, 9) und standen zunächst unter Kontrolle der Kurden, dann im Nachgang zum kurdischen Unabhängigkeitsreferendum vom 25. September 2017 unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung bzw. der ihr unterstehenden Popular Mobilisation Units – PMU (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 18). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 von den irakischen Streitkräften eingenommen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 56) und die letzten irakischen Städte, die sich unter der Kontrolle des IS befunden haben – Al- Qaim, Ana und Rawa im Westen des Landes – im November 2017 zurückerobert (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 8). Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den IS (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 20.11.18, S. 18).

72 cc) Es ergeben sich derzeit keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der IS in absehbarer Zeit in der Lage wäre, erneut den Distrikt Sindjar zu erobern und infolgedessen die dort lebenden Yeziden flächendeckend zu verfolgen.

73 Die Schätzungen über die Anzahl der sich noch im Irak und in Syrien aufhaltenden Mitglieder des IS gehen weit auseinander; sie werden teilweise mit 20.000 bis 30.000 Personen angegeben (vgl. BFA, Kakai, Verfolgung und Diskriminierung, staatlicher Schutz, Religionsfreiheit, Niederlassung im Nordirak, 13.12.2018, S. 2 und 5 m.w.N.), andere sprechen von 10.000 bis 25.000 Kämpfern (vgl. European Asylum Support Office (EASO), Iraq, Security situation, März 2019, S. 28 m.w.N.). Bezüglich der Anzahl der Kämpfer im Irak reichen die Schätzungen von einer Stärke von 1.000 Personen über 3.000 Kämpfer bis hin zu einer Anzahl zwischen 15.500 und 17.100 verbliebenen Kämpfern (vgl. EASO, Iraq, Security situation, März 2019, S. 29 m.w.N.; United Nations Security Council (UNSC), Eight Report on the threat posed by ISIL, 1.2.2019, S. 4).

74 Seit dem militärischen Sieg über den IS wandelt sich die Organisation wieder zunehmend zu einer aus dem Untergrund operierenden Terrorgruppe, die sich auf Selbstmordanschläge und Guerilla-Taktik konzentriert (vgl. EASO, Iraq, Security situation, März 2019, S. 34; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12.2.2018, S. 15). Nachdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor, hat er drei Phasen durchlaufen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 20.11.18, S. 18 - 19 m.w.N.): Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Anschließend versuchte der IS die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Der Fokus der Aktivitäten des IS lag in den Provinzen Diyala, Kirkuk und Salah al-Din. Gleichzeitig verstärkte er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (vgl. Joel Wing, Islamic State Rebuilding In Rural Areas Of Central Iraq, 3.7.2018, S. 5 des Ausdrucks).

75 Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (vgl. Joel Wing, Islamic Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, 6.10.2018, S. 1 - 2 des Ausdrucks). Die Mitglieder des IS haben sich verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist zu früheren Taktiken zurückgekehrt: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (vgl. The Atlantic, ISIS Never Went Away in Iraq, 31.8.2018, S. 4 des Ausdrucks).

76 Im Oktober 2018 kam es zu Einsätzen der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninive, Diyala und Salah al-Din. Ziel war es, den IS daran zu hindern, sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (vgl. Congressional Research Service (CRS), Iraq: Issues in the 115th Congress, 4.10.2018, S. 5). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (vgl. CRS, Iraq: Issues in the 115th Congress, 4.10.2018, S. 5). Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben sowie Vergeltungsmaßnahmen gegen diejenigen ausgeübt, die sich weigern zu zahlen. Es gibt Gebiete, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und in denen sich Kämpfer des IS tagsüber offen zeigen. Dies geschieht selbst bei ständigen Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind, da die Kämpfer ausweichen, wenn die Einsätze stattfinden, und zurückkehren, wenn sie wieder beendet sind. Der IS verfügt derzeit über eine nach außen hin expandierende Kontrolle in diesen Gebieten (vgl. Joel Wing, October 2018, Islamic State Expanding Operations In Iraq, 2.11.2018, S. 3 des Ausdrucks und Joel Wing, Islamic Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, 6.10.2018, S. 2 des Ausdrucks). Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (vgl. Niqash, New Terror Campaign: Extremists Intimidate, Harass, Dislocate Locals In Salahaddin, Then Take Over, 12.7.2018, S. 2 des Ausdrucks). Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt, die Bevölkerung eingeschüchtert wird und aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften kooperiert (vgl. Joel Wing, Islamic Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, 6.10.2018, S. 2 - 3 des Ausdrucks).

77 In den Provinzen Ninive, Salah al-Din, Anbar, Kirkuk sowie Diyala muss weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem IS und irakischen Sicherheitskräften gerechnet werden. Dabei ist der Zentralirak derzeit der wichtigste Stützpunkt für den IS. Die Gewalt dort nahm im Sommer 2018 zu, ist aber inzwischen wieder gesunken. In den Gebieten, in denen der IS aktiv ist, gibt es weiter regelmäßige Angriffe auf Städte; Zivilisten und Beamte werden entführt und es kommt regelmäßig zu Schießereien (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018, S. 26 - 27 m.w.N.).

78 Damit lässt sich zusammenfassend festhalten, dass von dem IS weiter eine ernstzunehmende Bedrohung ausgeht, insbesondere in Form von Anschlägen, Entführungen sowie Übergriffen auf Sicherheitskräfte. Ihm ist es nach dem vollständigen Verlust seines Territoriums gelungen, im Irak weiter über Unterstützungs- und Einflusszonen zu verfügen. Im Nordwesten des Irak hat er eine durch die südlich von Sindjar gelegene Jazeera Wüste verlaufende Nachschubroute zwischen Syrien, Anbar und Salah al-Din sowie einen Rückzugsort westlich von Mossul geschaffen (vgl. Karte des Institute for the Study of War, ISIS Re-Establishes Iraqi Sanctuary, 7.3.2019; BFA, Kakai, Verfolgung und Diskriminierung, staatlicher Schutz, Religionsfreiheit, Niederlassung im Nordirak, 13.12.2018, S. 2 und 4 m.w.N.). Die Erkenntnisse über die gegenwärtige Stärke des IS rechtfertigen indes nicht die Annahme, dass er derzeit oder in absehbarer Zukunft in der Lage sein wird, erneut ein Gebiet im Irak zu besetzen. Ein Herrschaftsterritorium hat sich der IS in den letzten eineinhalb Jahren im Herkunftsland des Klägers nicht mehr aufbauen können. Bei Auswertung der Quellen fehlt es zudem an ausreichenden Anhaltspunkten, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. Dabei hat der Senat auch in den Blick genommen, dass die aktuelle Situation nicht mit der zum Zeitpunkt der Eroberung des Distrikts Sindjar im Sommer 2014 vergleichbar ist. Damals kontrollierte der IS bereits seit dem Kalenderjahr 2013 zahlreiche Gebiete in Syrien und drang sodann im Juni 2014 von dort aus in den Irak ein, nahm, nachdem die irakische Armee ihre Stellungen dort kampflos aufgab, am 10. Juni 2014 Mossul und in der Folgezeit mit den dort erbeuteten schweren Waffen nach dem Rückzug der Peschmerga große Teile der Provinz Ninive, einschließlich den Distrikt Sindjar ein (vgl. EZKS, Gutachten zum Erhebungsersuchen Nord-Irak vom 14.1.2015, S. 2, 5). Aktuell dürfte der IS über einen vergleichbaren Rückhalt in Syrien nicht mehr verfügen. Nach aktuellen Meldungen (vgl. www.tagesschau.de, IS in Syrien für besiegt erklärt, 23.3.2019) ist mit Baghus seine letzte Bastion in Syrien im März 2019 gefallen. Darüber hinaus hat es nach dem Einmarsch des IS in die Provinz Ninive in der Region eine massive Aufrüstung und Ausbildung der verschiedenen Sicherheitsakteure durch internationale Unterstützung gegeben. Die USA führen Ausbildungsmaßnahmen für die irakischen Sicherheitskräfte durch und unterstützen den Aufbau der irakischen Armee (vgl. zu den einzelnen Programmen CRS, Iraq: Issues in the 115th Congress, 4.10.2018, S. 2, 15, 18). Bereits Ende August 2014 hatte die Bundesregierung die Peschmerga-Kämpfer durch Lieferung militärischer Ausrüstung unterstützt (vgl. Auswärtiges Amt, Kampf gegen den IS: Bundeswehr verstärkt Peschmerga-Ausbildung, 28.1.2015, S. 3 des Ausdrucks) und sich in der Folgezeit auch an der Ausbildung der Sicherheitskräfte der Regionalregierung von Kurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte beteiligt (vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Einsatz Counter Daesh/Capacity Building Irak soll weitergehen, 2.10.2018; Spiegel Online, Kampf gegen den IS, Bundeswehr startet neue Irak-Mission, 29.8.2018; Auswärtiges Amt, Kampf gegen den IS: Bundeswehr verstärkt Peschmerga-Ausbildung, 28.1.2015, S. 1 - 3 des Ausdrucks). Damit dürfte sich auch das militärische Kräfteverhältnis erheblich zu Lasten des IS verschoben haben.

79 Aufgrund dieser veränderten Situation liegen stichhaltige Gründe i.S.v. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vor, die dagegen sprechen, dass der Kläger erneut von einer solchen Verfolgung bedroht würde, da die der Annahme einer Vorverfolgung und damit des Eingreifens der Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugrunde liegende Tatsachengrundlage – die territoriale Herrschaft des IS über den Distrikt Sindjar, die erst eine flächendeckende Verfolgung der Yeziden in der Region in der Vergangenheit ermöglicht hatte – entfallen ist.

80 b) Die seit dem vollständigen Verlust seines territorialen Herrschaftsgebietes im Irak ausgeübten Aktivitäten des IS rechtfertigen nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Sindjar, der Herkunftsregion des Klägers, da es dort an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte nach den oben genannten Maßstäben fehlt. Die gebotene Relationsbetrachtung zwischen der Gesamtgröße der betroffenen Bevölkerungsgruppe und der Anzahl sowie des Gewichts der Verfolgungsmaßnahmen i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG ergibt bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für jeden Gruppenzugehörigen. Selbst wenn man davon ausginge, die wegen einer (unterstellten) Gruppenverfolgung der Yeziden durch den IS vor der Ausreise des Klägers angenommene Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU griffe unabhängig vom Bestehen der territorialen Herrschaft des IS im Distrikt Sindjar ein, führte dies zu keinem anderen Ergebnis, da die tatsächliche Vermutung einer begründeten Verfolgungsfurcht aufgrund der nachfolgend dargelegten Umstände durch stichhaltige Gründe widerlegt wäre. [...]

105 (2) Anhaltspunkte für sonstige aktuelle relevante Einschränkungen der Religionsausübung der Yeziden im Sindjar durch den IS sind nicht ersichtlich. Nach dem Einfall des IS im Sindjar im August 2014 erfolgten massive Eingriffe in die Religionsfreiheit Andersgläubiger; Konversionen zum Islam wurden systematisch erzwungen, Verweigerer exekutiert (vgl. UNHRC, "They came to destroy": ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 8 - 9). Diese auf der Ausübung der territorialen Gewalt im Sindjar beruhende Möglichkeit des flächendeckenden Eingriffs in die Religionsfreiheit der Yeziden ist mit dem militärischen Sieg über den IS entfallen. Den bekannten aktuellen Erkenntnismitteln lassen sich keine zielgerichteten Eingriffe des IS in die Religionsfreiheit der Yeziden im Sindjar mehr entnehmen.

106 (3) Nach der Verdrängung des IS aus dem Sindjar im Jahr 2015 sind diesem auch keine Vertreibungen in der Region in Anknüpfung an die yezidische Glaubenszugehörigkeit mehr zuzurechnen. Mit dem Einmarsch des IS im Sindjar im August 2014 ging eine massenhafte Vertreibung von Yeziden einher (vgl. UNHRC, "They came to destroy": ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 33). Auch heute, nach dem Ende der IS-Herrschaft im Sindjar, leben noch viele Yeziden aus dem Distrikt in Flüchtlingslagern (vgl. The New Humanitarian (TNH), The Yazidis who never came down the mountain, 23.4.2018). Dies vermag indes keine aktuelle Vertreibung von Yeziden wegen deren Glaubenszugehörigkeit durch den IS zu begründen. Die Gründe der fehlenden Rückkehr sind unterschiedlicher Natur und dürften oftmals einer Gemengelage aus angespannter Sicherheitslage, Vertrauensverlust in die dort lebende arabische Bevölkerung und schlechten humanitären Bedingungen geschuldet sein (vgl. BFA, Jesiden in der Provinz Ninawa, 11.2.2019, S. 6 - 9). Eine erneute Vertreibung durch den IS im Falle der Rückkehr ist angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse im Irak derzeit hingegen nicht beachtlich wahrscheinlich. Allein der Umstand, dass die Rückkehr durch Handlungen des IS (Verminen des Geländes, Errichtung von Sprengfallen in Gebäuden, Zerstörung von Häusern sowie der Landwirtschaft), die während seiner damaligen Gebietsherrschaft in dem Distrikt erfolgten, erschwert wird, vermag keine aktuelle Vertreibung zu begründen. [...]