Vorlagebeschluss zur Unionsrechtmäßigkeit eines Einreiseverbots aus "nichtmigrationsbedingten" Zwecken:
In dem Vorlagebeschluss wird die Frage gestellt, ob ein nach nationalem Recht auch ohne Abschiebungsandrohung mögliches, an die Ausweisung selbst anknüpfendes (befristetes) Einreise- und Aufenthaltsverbot mit Unionsrecht im Einklang steht.
Dies betrifft die Frage, ob "nichtmigrationsbedingte" Einreiseverbote grundsätzlich oder unter bestimmten Voraussetzungen in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fallen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
1. a) Wird ein Einreiseverbot, das gegen einen Drittstaatsangehörigen zu "nicht migrationsbedingten" Zwecken erlassen wird, von dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) jedenfalls dann erfasst, wenn der Mitgliedstaat von der Möglichkeit des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie keinen Gebrauch gemacht hat?
b) Für den Fall der Verneinung der Frage zu 1. a): Unterfällt ein solches Einreiseverbot auch dann nicht der Richtlinie 2008/115/EG, wenn der Drittstaatsangehörige bereits unabhängig von einer gegen ihn erlassenen Ausweisungsverfügung, an die das Einreiseverbot anknüpft, illegal aufhältig ist und damit dem Anwendungsbereich der Richtlinie dem Grunde nach unterfällt?
c) Zählt zu den zu "nicht migrationsbedingten" Zwecken erlassenen Einreiseverboten ein Einreiseverbot, das im Zusammenhang mit einer aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (hier: allein aus generalpräventiven Gründen mit dem Ziel der Terrorismusbekämpfung) verfügten Ausweisung ergeht?
2. Soweit Frage 1 dahin beantwortet wird, dass das vorliegende Einreiseverbot in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG fällt:
a) Hat die behördliche Aufhebung der Rückkehrentscheidung (hier: der Androhung der Abschiebung) zur Folge, dass ein zeitgleich mit dieser angeordnetes Einreiseverbot im Sinne des Art. 3 Nr. 6 der Richtlinie 2008/115/EG rechtswidrig wird?
b) Tritt diese Rechtsfolge auch dann ein, wenn die der Rückkehrentscheidung vorgelagerte behördliche Ausweisungsverfügung bestandskräftig (geworden) ist? [...]
23 2.1 Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich.
24 a) Nationales Recht gebietet weder die Aufhebung des auf § ii Abs. 1 AufenthG beruhenden Einreise- und Aufenthaltsverbots noch die hilfsweise beantragte Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung des Antrags auf Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots.
25 aa) Die Voraussetzungen des § 11 Abs. i AufenthG sind erfüllt. Danach darf ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, weder erneut in das Bundesgebiet einreisen, noch sich darin aufhalten, noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden (Einreise- und Aufenthaltsverbot). Der Kläger ist bestandskräftig ausgewiesen worden. Seine Rechtsmittel gegen die Ausweisung hatten endgültig keinen Erfolg, denn das Bundesverwaltungsgericht hat die Revision des Klägers gegen die klageabweisenden Urteile der Vorinstanzen insoweit mit Urteil vom 9. Mai 2019 - 1 C 21.18 - zurückgewiesen.
26 Die Ausweisung war rechtmäßig und zulässig, obwohl der Kläger wegen einer drohenden Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK auf absehbare Zeit nicht nach Syrien abgeschoben werden kann. Nach deutschem Aufenthaltsrecht ist eine Ausweisung nicht unmittelbar mit einer Aufenthaltsbeendigung verbunden und hat eine solche auch nicht stets zur Folge, Personen, deren weiterer Aufenthalt die öffentliche Sicherheit gefährdet, können vielmehr auch dann ausgewiesen werden, wenn eine Abschiebung wegen der Verhältnisse im Zielstaat nicht möglich ist. Dies bewirkt dann zumindest, dass der Aufenthaltstitel des Ausländers erlischt (§ 51 Abs. i Nr. 5 AufenthG) und in bestimmten Fällen ausländerrechtliche Überwachungsmaßnahmen eingreifen. Aber auch Ausländer, die - wie der Kläger - nie einen Aufenthaltstitel hatten und sich nur mit einer Duldung im Sinne von § 60a AufenthG in Deutschland aufhalten, können nach deutschem Recht ausgewiesen werden. In diesem Fall bewirkt die Ausweisung, dass dem Ausländer bis zum Ablauf ihrer Befristung kein Aufenthaltstitel erteilt werden darf ( § 11 Abs. 1 Alt. 3 AufenthG). [...]
29 b) Klärungsbedürftige Rechtsfragen im Sinne des Art. 267 AEUV ergeben sich indes zur Frage, ob ein nach nationalem Recht auch ohne Abschiebungsandrohung mögliches, an die Ausweisung selbst anknüpfendes (befristetes) Einreise- und Aufenthaltsverbot mit Unionsrecht in Einklang steht.
30 aa) "Rückkehrentscheidung" im Sinne des Art. 3 Nr. 4 RL 2008/115/EG ist - deren Anwendbarkeit auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unterstellt - nach bisherigem nationalem Rechtsverständnis jedenfalls im Regelfall nicht allein die Ausweisung selbst (§§ 53 ff. AufenthG), welche jedenfalls die Legalität eines Aufenthalts kraft Gesetzes (§ 50 Abs. 1 und 2, § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) beendet, sondern erst die Abschiebungsandrohung (§ 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).
31 Der Ausdruck "Rückkehrentscheidung" bezeichnet nach Art. 3 Nr. 4 RL 2008/115/EG die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird. Gemäß Art. 6 Abs. 6 RL 2008/115/EG sollen die Mitgliedstaaten durch diese Richtlinie nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen.
32 Die Ausweisungsentscheidung nach nationalem Recht bewirkt (jedenfalls bei Ausländern mit rechtmäßigem Aufenthalt) lediglich die Illegalität des Aufenthalts. Erst mit der Abschiebungsandrohung ist indes die nach Art. 7 Abs. 1 RL 2008/115/ EG bei einer Rückkehrentscheidung grundsätzlich erforderliche behördlich oder gerichtlich gesetzte Frist zur freiwilligen Ausreise (§ 59 Abs. 1 AufenthG) zu setzen, deren fruchtloses Verstreichen Voraussetzung einer zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht durch Abschiebung (§ 58 AufenthG) ist (s.a. Art. 8 Abs. 1 RL 2008/115/EG).
33 bb) Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass jedenfalls migrationsbedingte Einreise- und Aufenthaltsverbote uneingeschränkt von der Richtlinie erfasst sind. Klärungsbedürftig ist - nicht zuletzt mit Blick auf Äußerungen der Europäischen Kommission - hingegen, ob dies auch für "nicht migrationsbedingte Einreiseverbote" gilt.
34 Ob derartige nicht migrationsbedingte Einreiseverbote tatsächlich grundsätzlich oder unter bestimmten Voraussetzungen nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fallen, ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bislang nicht geklärt.
35 Für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des hier streitgegenständlichen, an eine Ausweisung im Sinne des § 51 Abs. 1 Halbs. i Nr. 5 i.V.m. den §§ 53 ff. AufenthG anknüpfenden und daher im vorstehenden Sinne "nicht migrationsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots" des § 11 Abs. 1 AufenthG ist es erheblich, ob dieses dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG unterfällt und - bejahendenfalls - ob es sich auch nach einer behördlichen Aufhebung der mit ihm einhergehenden Rückkehrentscheidung, hier der Abschiebungsandrohung nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, als mit der Richtlinie 2008/115/EG vereinbar erweist.
36 2.2 Die hierzu im Tenor dieses Beschlusses aufgeworfenen Vorlagefragen bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof.
37 a) Mit der Vorlagefrage zu 1. a) möchte das vorlegende Gericht wissen, ob auch "nicht migrationsbedingte Einreiseverbote" im vorstehend unter 2.1 b) bb) erläuterten Sinne von dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG jedenfalls dann erfasst werden, wenn - wie für die vorliegende Konstellation die Bundesrepublik Deutschland - der Mitgliedstaat von der Möglichkeit des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG keinen Gebrauch gemacht hat. Die nicht zuletzt durch die Empfehlung (EU) 2017/2338 begründeten Zweifel an der Nichtanwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG auf "nicht migrationsbedingte Einreiseverbote" (aa) lassen sich für den Senat nicht mit der gebotenen Gewissheit aus der Richtlinie selbst beseitigen (bb).
38 aa) Gemäß Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG bezeichnet der Ausdruck "Einreiseverbot" die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Als "migrationsbedingtes Einreiseverbot" bezeichnet die Kommission ein Einreiseverbot, welches an die Verletzung der für die EU-Mitgliedstaaten geltenden Migrationsbestimmungen, d.h. derjenigen Bestimmungen anknüpft, die die Einreise und den Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen in dem jeweiligen Mitgliedstaat regeln (vgl. Nr. 11 der Empfehlung <EU> 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames "Rückkehr-Handbuch", das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist <ABl. L 339 S. 83>, - im Folgenden: Empfehlung <EU> 2017/2338). Migrationsbedingte Einreiseverbote sind präventiver Natur. Von ihnen soll die Botschaft ausgehen, dass Personen, die die für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union geltenden Migrationsbestimmungen verletzen, die Genehmigung der Einreise in das Unionsgebiet für einen bestimmten Zeitraum versagt wird (Nr. 11 Empfehlung <EU> 2017/2338). Bewirkt die Verletzung der betreffenden Migrationsbestimmungen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen in dem jeweiligen Mitgliedstaat rechtswidrig ist oder wird, so sind für dessen Rückführung gemäß Art. 1 RL 2008/115/EG die gemeinsamen Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, gelten, anzuwenden.
39 Demgegenüber bezeichnet der Begriff "nicht migrationsbedingtes Einreiseverbot" im Sprachgebrauch von Nr. 11 der Empfehlung (EU) 2017/2338 ein Einreiseverbot, das nicht an die Verletzung der für die EU-Mitgliedstaaten geltenden Migrationsbestimmungen anknüpft, sondern zu anderen Zwecken erlassen wird. Hierunter fallen insbesondere solche Einreiseverbote, die infolge der Begehung schwerer Straftaten durch Drittstaatsangehörige und deren behördliche oder gerichtliche Sanktionierung ergehen und dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in dem Mitgliedstaat dienen.
40 bb) Der Wortlaut sowohl des Art. 3 Nr. 6 als auch des Art. 11 Abs. 1 RL 2008/115/EG sieht eine entsprechende Einschränkung des Anwendungsbereichs der Richtlinie nicht vor. Beide Vorschriften verhalten sich nicht zu den Zwecken, aus denen Einreiseverbote angeordnet werden; sie beschreiben nur deren Inhalt beziehungsweise regeln die Voraussetzungen, unter denen Rückkehrentscheidungen mit einem Einreiseverbot einhergehen (können).
41 Auch in richtliniensystematischer Hinsicht lassen sich aus Sicht des vorlegenden Gerichts Anhaltspunkte für eine entsprechende Beschränkung des Anwendungsbereichs der Richtlinie nicht ausmachen. Zwar hat der französische Conseil d'Etat entschieden, die Richtlinie finde nur auf solche Rückkehrentscheidungen der Mitgliedstaaten Anwendung, die wegen des illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen getroffen werden. Sie sei hingegen nicht auf Verfahren der Aufenthaltsbeendigung anwendbar, die auf anderen Gründen beruhen, insbesondere auf einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Conseil d'Etat, avis n° 360317 vom 10. Oktober 2012, ECLI:FR:CESSR:2012:360317.20121010). Art. 1 RL 2008/115/EG, ausweislich dessen diese Richtlinie gemeinsame Normen und Verfahren enthält, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind, differenziert aber nicht zwischen den Gründen, aus denen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrpflicht auferlegt wird. Gemäß Art. 2 Abs. 1 RL 2008/115/EG erfasst der persönliche Anwendungsbereich dieser Richtlinie illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige, ohne danach zu unterscheiden, aus welchen Gründen der Betroffene ausreisepflichtig ist. Für die Annahme, dass auch Einreiseverbote, die nicht an die Verletzung der für die EU-Mitgliedstaaten geltenden Migrationsbestimmungen anknüpfen, sondern infolge der Begehung schwerer Straftaten durch Drittstaatsangehörige und deren behördliche oder gerichtliche Sanktionierung angeordnet werden, streitet auch Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG, dem zufolge die Mitgliedstaaten beschließen können, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist. Für den Fall eines solchen Beschlusses unterliegt der Mitgliedstaat hinsichtlich der betreffenden Personengruppe keinen Pflichten aus der Richtlinie 2008/115/EG. Die von den betreffenden Personen begangenen Straftaten dürfen sich nicht in dem Rechtsverstoß des illegalen Aufenthalts erschöpfen (EuGH, Urteil vom 6. Dezember 2011 - C-329/11 [ECLI:EU:C:2011:807], Achughbabian - Rn. 41). Für einen grundsätzlich umfassend angelegten, jedoch einschränkbaren Anwendungsbereich der Richtlinie streitet ferner Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RL 2008/115/EG, ausweislich dessen die Dauer des Einreiseverbots fünf Jahre überschreiten kann, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.
42 Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 RL 2008/115/EG dienen ausweislich Erwägungsgrund 14 Satz 1 RL 2008/115/EG dazu, der Wirkung der einzelstaatlichen Rückführungsmaßnahmen durch die Einführung eines Einreiseverbots, das die Einreise in das Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten und den dortigen Aufenthalt verbietet, europäischen Zuschnitt zu verleihen. Ziel ist es, der illegalen Einwanderung vorzubeugen und zu verhindern, dass illegal aufhältige Drittstaatsangehörige aufgrund von divergierenden mitgliedstaatlichen Regelungen aufenthaltsbeendende Maßnahmen unterlaufen können. Auch diese Zielsetzungen legen grundsätzlich eine weite Fassung des Anwendungsbereichs der Norm nahe. Nr. 11 Empfehlung (EU) 2017/2338 misst den in der Richtlinie vorgesehenen rückführungsbezogenen Einreiseverboten vorbeugende Wirkung und die Funktion bei, die Glaubwürdigkeit der Rückkehrpolitik zu erhöhen.
43 Diese Bestimmung sieht allerdings auch vor, dass solche Einreiseverbote von den Vorschriften der Rückführungsrichtlinie über rückführungsbezogene Einreiseverbote unberührt bleiben, die zu "nicht migrationsbedingten Zwecken" erlassen werden. Ausdrücklich bezeichnet werden in diesem Zusammenhang Einreiseverbote für Drittstaatsangehörige, die schwere Straftaten begangen haben oder bei denen konkrete Hinweise bestehen, dass sie eine solche Straftat planen. Nr. 11 Empfehlung (EU) 2017/2338 verweist insoweit auf Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr.1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) (ABl. L 381 S. 4). Danach wird eine nationale Ausschreibung zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung, die auf einer Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörden oder Gerichte beruht, eingegeben, wenn diese Entscheidung auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die nationale Sicherheit gestützt wird, die die Anwesenheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats darstellt. Dies ist insbesondere der Fall bei einem Drittstaatsangehörigen, der in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist, und bei einem Drittstaatsangehörigen, gegen den ein begründeter Verdacht besteht, dass er schwere Straftaten begangen hat, oder gegen den konkrete Hinweise bestehen, dass er solche Taten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats plant (vgl. zur Qualifikation terroristischer Straftaten als schwere Straftat Art. 24 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung <EU> 2018/1861 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems <SIS> im Bereich der Grenzkontrollen, zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und zur Änderung und Aufhebung der Verordnung <EG> Nr.1987/2006 <ABl. L 312 S.14>). Im Gegensatz dazu regelt Art. 24 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VO (EG) Nr. 1987/2006 die Voraussetzungen für Ausschreibungen zur Einreise- und Aufenthaltsverweigerung in Fällen der Nichtbeachtung der nationalen Rechtsvorschriften über die Einreise oder den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen.
44 Der historisch-genetischen Auslegung der Richtlinie 2008/115/EG lassen sich keine eindeutigen Hinweise auf die in Nr. 11 Empfehlung (EU) 2017/2338 geäußerte Annahme entnehmen, dass zu "nicht migrationsbedingten" Zwecken angeordnete Einreiseverbote von den Vorschriften der Rückführungsrichtlinie über rückführungsbezogene Einreiseverbote unberührt bleiben. In Ziffer 3 Nr. 12 ihres Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (KOM/2005/0391 endg.) führt die Europäische Kommission aus, selbst wenn es Gründe für eine stärkere Harmonisierung in Fragen der "Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit" gäbe, sei die vorliegende Richtlinie, bei der es um die Beendigung eines illegalen Aufenthalts beziehungsweise um Rückführung gehe, nicht der richtige Ort dafür, sondern eher die Richtlinien zur Regelung der Einreise- und Aufenthaltsbedingungen und der Entziehung des Aufenthalts-/Bleiberechts. Sobald der legale Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen jedoch aus Gründen der öffentlichen Ordnung beendet sei, werde diese Person zu einem sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen im Sinne dieser Richtlinie und die Bestimmungen dieser Richtlinie fänden Anwendung auf diese Person. Zu Ziffer 4 Kapitel 1 ihres Vorschlags merkt die Europäische Kommission ergänzend an: Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit der geplanten Richtlinie sei der "illegale Aufenthalt". Mit dem Vorschlag, der eine Maßnahme zur illegalen Einwanderung im Sinne von Art. 63 Abs. 3 Buchst. b EG darstelle, solle eine Reihe von horizontalen Vorschriften eingeführt werden, die auf jede Art von illegalem Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen anwendbar seien (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand dieser Richtlinie seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts.
45 b) Für den Fall der Verneinung der Frage zu 1. a) stellt sich aus Sicht des vorlegenden Gerichts die zu 1. b) formulierte Frage, ob ein zu "nicht migrationsbedingten Zwecken" angeordnetes Einreiseverbot auch dann nicht der Richtlinie 2008/115/EG unterfällt, wenn - wie hier der Kläger - der Drittstaatsangehörige bereits unabhängig von einer gegen ihn erlassenen Ausweisungsverfügung, an die das Einreiseverbot anknüpft, illegal aufhältig ist und damit dem Anwendungsbereich der Richtlinie dem Grunde nach unterfällt.
46 Tritt zu einem mangels Aufenthaltstitels bereits aus migrationsbedingten Gründen illegalen Aufenthalt, der den Anwendungsbereich der Richtlinie eröffnete, mit einer Ausweisung ein weiterer, nicht migrationsbedingter Grund hinzu, der den Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen zusätzlich illegal werden lässt, ist für den Anwendungsbereich zu klären, ob allein auf das Faktum des illegalen Aufenthalts oder insoweit auf die jeweilige behördliche oder gerichtliche Maßnahme abzustellen ist, an die das zur gerichtlichen Prüfung gestellte Einreise- und Aufenthaltsverbot anknüpft.
47 c) Mit der Frage zu 1. c) möchte das vorlegende Gericht wissen, ob zu den zu "nicht migrationsbedingten" Zwecken erlassenen Einreiseverboten auch ein Einreiseverbot zu rechnen ist, das im Zusammenhang mit einer aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (hier: allein aus generalpräventiven Gründen mit dem Ziel, andere Ausländer von der Begehung terroristischer Straftaten abzuhalten,) verfügten Ausweisung ergeht.
48 Diese Frage stellt sich nur, wenn Einreiseverbote zu "nicht migrationsbedingten" Zwecken nach der Beantwortung der vorangegangenen Fragen nicht unter die Richtlinie fallen. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts wäre sie zu bejahen. Wenn der Begriff der "nicht migrationsbedingten" Einreiseverbote insbesondere Einreiseverbote für Drittstaatsangehörige umfasst, die schwere Straftaten begangen haben, dann dürfte auch ein Einreiseverbot, das mit der generalpräventiven Ausweisung eines wegen schwerer Straftaten verurteilten Drittstaatsangehörigen verbunden ist, in diese Kategorie fallen.
49 d) Ist Frage 1 dahin zu beantworten, dass ein Einreiseverbot wie das vorliegende in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/ EG fällt, stellt sich die Frage zu 2. a), ob die behördliche Aufhebung der Rückkehrentscheidung (hier: der Androhung der Abschiebung) zur Folge hat, dass ein zeitgleich mit dem Erlass der Rückkehrentscheidung angeordnetes Einreiseverbot im Sinne des Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG rechtswidrig wird.
50 Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG definiert das "Einreiseverbot" als eine behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, die "mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht" (s.a. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII Art. 3 RL 2008/115/EG Rn. 21). Daraus folgt schon nicht zwingend, dass die Aufhebung der Rückkehrentscheidung dem mit ihm einhergehenden beziehungsweise dieses begleitende (accompanying beziehungsweise accompagne) Einreiseverbot die Grundlage entzieht, aus der zeitlichen Koppelung unionsrechtlich also notwendig und stets auch eine sachliche Verknüpfung folgt. Dem Einreiseverbot wird mit der Aufhebung der Rückkehrentscheidung (Art. 3 Nr. 4 RL 2008/115/EG) regelmäßig allerdings dann die Grundlage entzogen, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen nicht mehr illegal ist, diese also den - bereits aus anderem Rechtsgrund - illegalen Aufenthalt nicht nur feststellt, sondern konstitutiv begründet, oder aus dem Wegfall der mit der Rückkehrentscheidung verbundenen Rückkehrverpflichtung sonst eine Bleibeberechtigung folgt, also dies nicht allein die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung durch Abschiebung (Art. 3 Nr. 5 RL 2008/115/EG) bewirkt. Auch bei Aufhebung einer Rückkehrentscheidung bleibt aber nach diesen Begriffsbestimmungen für ein (isoliertes) Einreiseverbot dann Raum, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen weiterhin illegal ist oder seine Wirkungen für den Fall einer nicht auf einer behördlichen oder gerichtlichen Rückkehrentscheidung gründenden freiwilligen Ausreise entfaltet. Dass nach Art. 11 Abs. 1 RL 2008/115/EG Rückkehrentscheidungen mit einem Einreiseverbot einhergehen müssen (Satz 1) oder können (Satz 2), enthält keine Aussage zur unionsrechtlichen Möglichkeit eines Einreiseverbots ohne (fortbestehende) Rückkehrentscheidung.
51 e) Mit der für den Fall der Bejahung der Frage zu 2. a) aufgeworfenen Frage zu 2. b) möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Aufhebung der Rückkehrentscheidung die Rechtswidrigkeit des Einreiseverbots im Sinne des Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG auch dann zur Folge hat, wenn eine der Rückkehrentscheidung vorgelagerte behördliche Ausweisungsverfügung nach § 53 AufenthG bestandskräftig (geworden) ist.
52 Die Frage zielt auf eine mögliche Entkoppelung von (fortbestehender) Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot jedenfalls in den Fällen, in denen durch behördliche oder gerichtliche Entscheidung der illegale Aufenthalt bestandskräftig feststeht, von dem Drittstaatsangehörigen also nicht mehr mit Rechtsbehelfen angefochten werden kann, nach nationalem Recht hieraus kraft Gesetzes (§ 50 Abs. 1 AufenthG) die Verpflichtung des Drittstaatsangehörigen zur Ausreise, die grundsätzlich das Verlassen auch des Unionsgebietes erfordert (§ 50 Abs. 2 AufenthG), folgt und lediglich eine behördliche Entscheidung fehlt, diese objektiv bestehende Rückkehrverpflichtung auch durch Abschiebung zwangsweise durchzusetzen. Dass diese Entscheidungen systematisch zu unterscheiden sind, ergibt sich im Umkehrschluss aus Art. 6 Abs. 6 RL 2008/115/EG. [...]