OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 06.06.2019 - 10 LB 167/18 - asyl.net: M27603
https://www.asyl.net/rsdb/M27603
Leitsatz:

Kein Anspruch auf mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren bei erstinstanzlicher Entscheidung ohne mündliche Verhandlung:

"Ist in erster Instanz aufgrund des erklärten Einverständnisses der Beteiligten eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergangen, steht Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK einer Entscheidung des Berufungsgerichts durch Beschluss (§ 130a Satz 1 VwGO) in einem sogenannten Dublin-Verfahren nicht entgegen, wenn dieses bereits zuvor in einem gleichgelagerten Fall eine grundlegende Entscheidung zur allgemeinen Lage in dem betreffenden EU-Mitgliedstaat getroffen hat und keine Rechtsfragen aufgeworfen oder Tatsachen benannt werden, die eine Erörterung, eine persönliche Anhörung oder gar eine Beweisaufnahme in einer mündlichen Verhandlung erforderlich machen würden."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, mündliche Verhandlung, Europäische Menschenrechtskonvention, rechtliches Gehör, Urteil, Grundsätzliche Bedeutung, Berufung, Beschluss,
Normen: EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1, VwGO § 130a S. 1,
Auszüge:

[...]

23 Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verlangt grundsätzlich, dass die Beteiligten im gerichtlichen Verfahren mindestens einmal die Gelegenheit erhalten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 18.12.2014 – 8 B 47.14 –, juris Rn. 6). Die gerichtliche Entscheidung soll grundsätzlich das Ergebnis eines diskursiven Prozesses zwischen Gericht und Beteiligten im Rahmen der mündlichen Verhandlung sein (BVerwG, Beschluss vom 03.12.2012 – 2 B 32.12 –, juris Rn. 5, und Urteil vom 09.12.2010 – 10 C 13.09 –, juris Rn. 23). Hierdurch soll auch die Ergebnisrichtigkeit der gerichtlichen Entscheidung gefördert werden (BVerwG, Beschluss vom 03.12.2012 – 2 B 32.12 –, juris Rn. 5, und Urteil vom 09.12.2010 – 10 C 13.09 –, juris Rn. 24). Der Kläger hatte die Gelegenheit, in einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht die Sach- und Rechtslage zu erörtern. Er hat allerdings hierauf verzichtet und sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 101 Abs. 2 VwGO).

24 Ergeht in der ersten Instanz aufgrund eines von den Beteiligten erklärten Einverständnisses eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Berufungsverfahren gleichwohl eine Entscheidung durch Beschluss gem. § 130a Satz 1 VwGO ergehen, ohne dass dies eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zur Folge hätte (BVerwG, Urteil vom 22.01.1998 – 2 C 4.97 –, juris Rn. 14; vgl. auch Urteil vom 14.03.2002 – 1 C 15.01 –, juris Rn. 6 zu § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG). Für die Beurteilung, ob es im Berufungsverfahren der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bedarf, sind die Gesamtumstände des Einzelfalls maßgeblich, wie etwa auch die rechtliche und tatsächliche Komplexität des Streitfalls (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.08.2015 – 4 B 15.15 –, juris Rn. 6, und Urteil vom 09.12.2010 – 10 C 13.09 –, juris Rn. 24). Eine besondere Schwierigkeit kann etwa vorliegen, wenn sich in einem Berufungsverfahren eine Vielzahl von ungeklärten Rechtsfragen stellt und damit ein vielschichtiger Streitstoff gegeben ist, über den erstmalig zu befinden ist, oder in einem Asylprozess eine neue Beurteilung der allgemeinen Lage erforderlich ist (BVerwG, Urteil vom 09.12.2010 – 10 C 13.09 –, juris Rn. 24).

25 Maßgeblicher Kern ist im vorliegenden Berufungsverfahren, wie auch schon im Verfahren der ersten Instanz, ob in Italien systemische Mängel vorliegen, die einer Abschiebung des Klägers nach dorthin entgegenstehen. Der Senat hat in einem anderen Verfahren (10 LB 96/17, juris) aufgrund der dortigen mündlichen Verhandlung vom 4. April 2018 mit Urteil vom selben Tag grundsätzlich entschieden, dass dies für alleinstehende Dublin-Rückkehrer ohne wesentliche gesundheitliche Einschränkungen – wie den Kläger – nicht der Fall ist. Auf die veröffentlichte Entscheidung wurde der Kläger mit der Anhörung gem. § 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO hingewiesen.

26 Der Kläger hat keine Rechtsfragen aufgeworfen oder Tatsachen benannt, die eine Erörterung, seine persönliche Anhörung oder gar eine Beweisaufnahme in einer mündlichen Verhandlung erforderlich machen würden. Die allgemeine Lage für Dublin-Rückkehrer in Italien hat der Senat mit seiner Entscheidung vom 4. April 2018 festgestellt. Hierzu hat der Kläger im Berufungsverfahren keine dort nicht bereits berücksichtigten relevanten Umstände oder entscheidungserhebliche individuelle Gesichtspunkte vorgetragen. Soweit der Kläger in seiner Klageschrift auch kurz eigene Erfahrungen in Italien geschildert hat, kann aus diesen bereits nicht auf die Gesamtsituation in Italien für Dublin-Rückkehrer geschlossen werden, so dass sie nicht geeignet sind, die grundsätzliche Beurteilung des Senats zur Lage in Italien in Frage zu stellen. Auch ist nicht ersichtlich, dass sich die Umstände in Italien seit der Entscheidung des Senats vom 4. April 2018 in entscheidungserheblicher Weise verändert hätten. Aufgrund der mit dieser Entscheidung festgestellten Tatsachen ist der Senat zu der Auffassung gelangt, dass in Italien für die oben bereits konkretisierten Dublin Rückkehrer keine systemischen Mängel im italienischen Asylsystem und den Aufnahmebedingungen vorliegen. Der Kläger begehrt demgegenüber eine Neubewertung der Tatsachengrundlage und letztlich eine andere rechtliche Bewertung. Er hat allerdings insoweit keine Gesichtspunkte benannt, die eine Erörterung in einer mündlichen Verhandlung erforderlich machen würden. Eine sachgerechte Entscheidung des Streitfalls ist dem Senat aufgrund der Aktenlage und der vorhandenen Erkenntnismittel möglich (vgl. dazu auch BVerwG, Beschluss vom 03.12.2012 – 2 B 32.12 –, juris Rn. 6, und Urteil vom 09.12.2010 – 10 C 13.09 –, juris Rn. 23). [...]