OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 17.04.2019 - 2 A 60/18 - asyl.net: M27606
https://www.asyl.net/rsdb/M27606
Leitsatz:

Ablehnung der Berufungszulassung zur Klärung der Frage, ob für in Rumänien anerkannte Schutzberechtigte eine Verletzung von Art. 3 EMRK droht: 

"1. Ein auf die grundsätzliche Bedeutung einer Tatsachenfrage gestützter Zulassungsantrag genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, wenn in ihm lediglich die Behauptung aufgestellt wird, die Verhältnisse stellten sich anders dar als vom Verwaltungsgericht angenommen. Es ist vielmehr im Einzelnen darzulegen, welche Anhaltspunkte für eine andere Tatsacheneinschätzung bestehen. Hierzu ist die Benennung bestimmter Erkenntnisquellen notwendig.

2. Die Frage, ob für jeden in Rumänien anerkannten Schutzberechtigen bei einer Rückkehr eine Situation besteht, in der der Schutzbereich des Art. 3 EMRK in einem generell nicht mehr zumutbaren Ausmaß beeinträchtigt ist, ist einer grundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren nicht zugänglich, weil die Bewertung, ob die einem Ausländer im Abschiebezielstaat drohenden Gefahren ein "Mindestmaß an Schwere" erreichen, von einer Vielzahl einzelner Umstände und Faktoren (z. B. Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Volkszugehörigkeit, Ausbildung, Vermögen, familiäre oder freundschaftliche Verbindungen) abhängig ist."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Rumänien, internationaler Schutz in EU-Staat, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Europäische Menschenrechtskonvention, ausländische Anerkennung, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Darlegungslast,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 78,
Auszüge:

[...]

Ein auf die grundsätzliche Bedeutung einer Tatsachenfrage gestützter Zulassungsantrag genügt indes nicht den Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, wenn in ihm lediglich die Behauptung aufgestellt wird, die für die Beurteilung maßgeblichen Verhältnisse stellten sich anders dar als vom Verwaltungsgericht angenommen. Es ist vielmehr im Einzelnen darzulegen, welche Anhaltspunkte für eine andere Tatsacheneinschätzung bestehen. Der Zulassungsantragsteller muss die Gründe, aus denen seiner Ansicht nach die Berufung zuzulassen ist, dartun und in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht erläutern. Hierzu genügt es nicht, bloße Zweifel an den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im Hinblick auf die Gegebenheiten in einem bestimmten Land zu äußern oder schlicht gegenteilige Behauptungen aufzustellen. Vielmehr ist es erforderlich, durch die Benennung bestimmter Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Behauptungen in der Antragsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf (vgl. dazu den Beschluss des Senats vom 28.3.2019 - 2 A 150/18 -; sowie OVG Münster, Beschluss vom 18.2.2019 - 13 A 4738/18.A -, juris). Daran fehlt es vorliegend. Ihre Auffassung, dass bei dem Kläger kein außergewöhnlicher Fall vorliege, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung nach Rumänien sprechen würden, hat die Beklagte nicht hinreichend durch entsprechende Erkenntnisquellen belegt. Der Hinweis der Beklagten auf den Inhalt eines Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des (österreichischen) Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl von 2015 genügt diesen Anforderungen nicht, denn diese Quelle wird lediglich in Zusammenhang mit der Verfahrensweise bei Folgeanträgen und der Erfüllung der EU-Standards der Unterbringungszentren in Rumänien angeführt. Erkenntnisquellen für die von der Beklagten nachfolgend beschriebenen Lebensverhältnisse in Rumänien für Flüchtlinge werden dagegen nicht benannt. Ebenso werden keine Dokumente angeführt, aus denen sich die Rückkehrsituation speziell für internationale Schutzberechtigte ergibt. Die ohne ausreichende Benennung von Erkenntnisquellen aufgestellte Behauptung, die Annahme des Verwaltungsgerichts, jeder international Schutzberechtigte sehe sich bei Überstellung nach Rumänien einem Schweregrad an Beeinträchtigungen ausgesetzt, der den Schutzbereich des Art. 3 EMRK erreiche, decke sich nicht mit den aktuellen Erkenntnissen des Bundesamtes zur Situation in Rumänien, reicht nicht aus, um den Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG zu genügen.

Abgesehen davon wären die von der Beklagten aufgeworfene Fragen, ob (1.) "für jeden in Rumänien internationalen Schutzberechtigten nach dessen Anerkennung eine Situation besteht, in der der Schutzbereich des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bzw. des Art. 3 EMRK in einem generell nicht mehr zumutbaren Ausmaß beeinträchtigt ist", sowie (2.) "nach welchen Maßstäben das Vorliegen einer Ausnahmekonstellation festzustellen ist, die vom Konzept der normativen Vergewisserung bei der Bestimmung eines sicheren Drittstaats nicht erfasst ist, d.h. insbesondere ob insoweit die Vorgaben der so genannten Aufnahmerichtlinie zu berücksichtigen sind", in dieser Allgemeinheit in dem hier konkret angestrebten Berufungsverfahren nicht klärungsfähig. Die betreffenden Fragen sind einer grundsätzlichen Klärung i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG deshalb nicht zugänglich, weil ihre Beantwortung von einer Vielzahl einzelner Umstände und Faktoren abhängig ist. Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen. In der Rechtsprechung des EGMR ist geklärt, dass die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" erreichen müssen, um ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC zu begründen. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab,  insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenen körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen (vgl. EGMR <GK>, Urteil vom 13.12.2016 - Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien - Rdnr. 174). Diese Rechtsprechung ist auf anerkannte Flüchtlinge zu übertragen, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Flüchtlingsanerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 2.8.2017 - 1 C 37.16 -, juris). Bei diesem Personenkreis kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht sein, wenn sie ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018 - 1 B 25/18 -, juris). Das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hängt demzufolge unter anderem von dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit sowie von weiteren individuellen Faktoren wie etwa familiären oder freundschaftlichen Verbindungen ab. In jedem Einzelfall sind außerdem z.B. die Vermögensverhältnisse, der (Aus-)Bildungsstand und andere auf dem Arbeitsmarkt nützliche Eigenschaften zu berücksichtigen (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 8.2.2019 - 13 A 1776/18.A -, juris). Davon ausgehend lässt sich die von der Beklagten angestrebte Klärung nicht allgemein "für jeden in Rumänien internationalen Schutzberechtigten", d.h. losgelöst von den tatsächlichen Umständen des konkreten Einzelfalls, mit der Durchführung eines Berufungsverfahrens erreichen. [...]