OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 21.03.2019 - 2 A 10/18 - asyl.net: M27607
https://www.asyl.net/rsdb/M27607
Leitsatz:

Auch Deserteure, und umso mehr deren Angehörige, haben keine asylrelevante Verfolgung zu befürchten, wenn kein Politmalus hinzutritt.

"1. Eine begründete Furcht eritreischer Staatsangehöriger vor individueller politischer Verfolgung bei einer Rückkehr nach Eritrea lässt sich nicht generell aus einer dort drohenden Einberufung zum Nationaldienst ableiten.

2. Eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ergibt sich auch nicht aus einer bei einer Rückkehr nach Eritrea zu erwartenden Bestrafung wegen illegaler Ausreise und wegen der Nichtableistung des Nationaldienstes.

3. Eine Bestrafung wegen Desertion stellt, sofern sie nicht mit einem Politmodus verbunden ist, mangels Anknüpfung an ein Verfolgungsmerkmal i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG keine flüchtlingsrelevante Verfolgung dar.

4. Ist schon der Desertierende deshalb grundsätzlich nicht von politischer Verfolgung bedroht, gilt dies erst recht für seine Familienangehörigen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, Desertion, Frauen, Upgrade-Klage, Aufstockungsklage, Politmalus, politische Verfolgung, Reflexverfolgung, illegale Ausreise,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Eine begründete Furcht der Klägerin vor individueller politischer Verfolgung im Fall einer Rückkehr nach Eritrea lässt sich insbesondere nicht aus einer ihr – unterstellt – drohenden Einberufung zum Nationaldienst herleiten. Diese stellt für sich genommen keine politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG dar. Selbst wenn man unter dem Aspekt eine Verfolgungsgefährdung annehmen wollte, ergäbe sich diese jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3b AsylG. Insoweit fehlte die nach § 3a Abs. 3 AsylG zusätzlich notwendige Verknüpfung der drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Insofern ist zu unterscheiden zwischen der Frage, ob einem Ausländer oder einer Ausländerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung gemäß den §§ 3 Abs. 1, 3a AsylG droht, und der Frage einer ebenfalls beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem konkreten Verfolgungsgrund. Ein solcher Zusammenhang zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund würde voraussetzen, dass gerade der Klägerin von den eritreischen Behörden ein entsprechendes Merkmal zugeschrieben würde (§ 3b Abs. 2 AsylG). Davon ist im Ergebnis nicht auszugehen.

Ob in einer – unterstellten – Heranziehung der inzwischen 19 Jahre alten Klägerin zu einem solchen Dienst für sich genommen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu sehen wäre, kann dahinstehen. Die Nationaldienstpflicht in Eritrea knüpft als solches jedenfalls nicht – wie es § 3a Abs. 3 AsylG fordert – an einen der in den §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe an. Die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes trifft im Wesentlichen alle eritreischen Staatsangehörigen (vgl. Art. 6 und 8 der Proklamation Nr. 82/1995: "any Eritrean citizen", "all Eritrean citizens"). Eine Unterscheidung nach Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe findet insoweit nicht statt.(vgl. ebenso OVG Hamburg, Urteil vom 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A –, juris (unter Hinweis auf den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 22.11.2016 (Stand: November 2016, S. 11 f., sowie EASO, Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 33 f.)).

Nach der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst ist dieser in Eritrea für Männer und Frauen vom 18. bis zum 50. Lebensjahr verpflichtend. Er unterteilt sich gemäß Art. 2 Abs. 3 und 4 der Proklamation Nr. 82/1995 in einen aktiven Nationaldienst ("active national service") und in einen Reservistendienst ("reserve military service"). Den aktiven Nationaldienst von offiziell 18 Monaten müssen gemäß Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 alle eritreischen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 40 Jahren absolvieren. In der Praxis werden allerdings – allgemein – viele Eritreer bereits im Alter von etwa 17 Jahren als dienstpflichtig behandelt, wobei teilweise sogar noch jüngere Eritreer rekrutiert werden.(vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und Diaspora-Steuer, vom 30.9.2018, S. 5; amnesty international, Stellungnahme vom 2.8.2018 an VG Magdeburg, S. 6) Die Rekrutierung findet häufig durch Razzien statt. Maßgeblich ist insoweit nicht das tatsächliche Alter, sondern oft eine Alterseinschätzung aufgrund des Aussehens der Person.

Der aktive Nationaldienst besteht aus einer sechs Monate dauernden militärischen Ausbildung ("training") in dem Militärausbildungszentrum Sawa und einem sich daran anschließenden zwölfmonatigen Dienst im Militär oder in Entwicklungsarbeiten ("active military service and developmental works"). Ausgenommen vom Nationaldienst sind lediglich Personen, die ihre Dienstpflicht bereits vor Inkrafttreten der Proklamation Nr. 82/1995 erfüllt haben, sowie ehemalige Unabhängigkeitskämpfer (Art. 12 der Proklamation Nr. 82/1995). Gesundheitliche Beeinträchtigungen führen in der Regel nur dazu, dass die militärische Ausbildung oder der aktive Nationaldienst erlassen sind (Art. 13 ff. der Proklamation Nr. 82/1995), nicht jedoch die Dienstverpflichtung als solche.(vgl. allgemein zur Nationaldienstverpflichtung: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Nationaldienst, vom 30.6.2017, S. 4 f.; Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22.6.2016, S. 10 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32 ff.).

Ungeachtet der in der Proklamation Nr. 82/1995 festgelegten Dauer und der Altersobergrenzen ist der Nationaldienst in Eritrea in der Praxis grundsätzlich unbefristet, wobei die Dienstverpflichteten entweder für eine zivile oder eine militärische Verwendung eingeteilt werden. Im Jahr 2002 verlängerte die eritreische Regierung die Nationaldienstpflicht faktisch auf unbestimmte Zeit. Diese Maßnahme wurde bislang mit der proklamierten "no war no peace"-Situation im Verhältnis zu Äthiopien begründet und trotz mehrfacher Bekundungen, die Dauer des Nationaldienstes wieder auf 18 Monate zu beschränken, weiter aufrechterhalten.(vgl. das Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22.6.2016, S. 45 ff.; EASO, Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 40 f.) Inwieweit die jüngste Entspannung zwischen Eritrea und Äthiopien und das am 9.7.2018 abgeschlossene Friedensabkommen zu Veränderungen beim Nationaldienst, insbesondere bei der unbefristeten Dienstpflicht, geführt hat oder künftig führen wird, lässt sich nach gegenwärtiger Erkenntnisquellenlage noch nicht verlässlich beurteilen.(vgl. die Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Schwerin vom 10.10.2017, S. 1; sowie Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und Diaspora-Steuer, S. 6; amnesty international, Stellungnahme vom 2.8.2018 an VG Magdeburg).

Eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen der Klägerin, ihr drohe bei einer Rückkehr nach Eritrea eine menschenrechtswidrige Bestrafung beziehungsweise ein "Politmalus" wegen der illegalen Ausreise und der Nichtableistung des Nationaldienstes. Denn sowohl eine Bestrafung der illegalen Ausreise als auch eine Sanktionierung der Umgehung des Nationaldienstes durch illegale Ausreise würden ebenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an einen in §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund, insbesondere nicht an eine – auch nur unterstellte – politische Überzeugung, anknüpfen.(vgl. ebenso OVG Hamburg, Urteil vom 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A –, juris)

Nach dem Art. 37 Abs. 1 der Nationaldienst-Proklamation Nr. 82/1995 werden Verstöße gegen die Vorschrift mit Haftstrafen von zwei Jahren und/oder einer Geldstrafe geahndet, sofern sich aus dem eritreischen Strafgesetzbuch von 1991 nicht härtere Strafen ergeben.(vgl. amnesty international, Stellungnahme vom 2.8.2018 an VG Magdeburg, S. 3 f.) Danach kann Desertion mit anschließender Flucht ins Ausland mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. In Kriegszeiten liegt das Strafmaß zwischen fünf Jahren und lebenslänglicher Haftstrafe, wobei in schweren Fällen auch die Todesstrafe verhängt werden kann. Ein zwischenzeitlich neu erlassenes Strafgesetzbuch wird in der Praxis noch nicht angewandt.(vgl. Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22.6.2016, S.n 17, 22, 32; EASO, Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 41 f.) Gemäß Art. 29 Abs. 2 der Proklamation Nr. 24/1992 wird die gegebenenfalls auch nur versuchte illegale Ausreise aus Eritrea, welche insbesondere dann vorliegt, wenn der Ausreisewillige kein gültiges Ausreisevisum besitzt, mit einem Strafmaß von bis zu fünf Jahren Haft und/oder Geldstrafe bestraft.(vgl. die Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Schwerin vom 10.10.2017, S. 2; EASO, Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 55). Allerdings ist nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen, dass in der Praxis Strafen nicht den zuvor aufgeführten gesetzlichen Regelungen entsprechend, sondern außergerichtlich und willkürlich verhängt werden.(vgl. die Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Schwerin vom 10.10.2017, S. 2; Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22.6.2016, S.n 21, 24, 31 ; Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 22.11.2016 (Stand: November 2016, S. 119; EASO, Bericht über  Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 42) Mehrere Quellen deuten darauf hin, dass die Strafen für Verstöße sowohl gegen die Nationaldienstpflicht als auch gegen die Ausreisebestimmungen in jüngerer Vergangenheit geringer ausfallen, insbesondere Haftdauern sich verkürzt haben.(vgl. etwa amnesty international, Stellungnahme vom 2.8.2018 an VG Magdeburg, S. 4 f.; sowie OVG Hamburg, Urteil vom 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A –, juris (m.w.N.)) Dies dürfte zum einen auf den Umstand zurückzuführen, dass immer mehr Eritreer versucht haben, das Land zu verlassen, und dabei aufgegriffen wurden, was in einer beträchtlichen Zahl von Inhaftierten resultiert. Zum anderen liegt der Grund für kürzere Haftdauern möglicherweise auch darin, die betroffenen Personen schnell wieder dem Nationaldienst zuzuführen, da die große Anzahl von Deserteuren dort Lücken hinterlassen. Die potentiell alle eritreischen Staatsangehörigen gleichermaßen treffenden Haftbedingungen sind prekär und werden als unmenschlich eingestuft.(vgl. amnesty international, Stellungnahme vom 2.8.2018 an VG Magdeburg, S. 5; Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 25.2.2018 (Stand: November 2017), S. 17) Zellen sind häufig überbelegt. Die hygienischen Bedingungen sind schlecht; teilweise sind keine Sanitäreinrichtungen vorhanden. Die Versorgung mit Trinkwasser ist ebenso wie eine medizinische Versorgung nicht gewährleistet. Essensrationen sind knapp und wenig nahrhaft. Folter und Misshandlungen werden sowohl zur Beschaffung von Informationen und Geständnissen als auch als Teil der Bestrafung eingesetzt. Teilweise werden die Gefangenen in unterirdischen Zellen oder auch in Schiffscontainern eingesperrt.(vgl. amnesty international, Stellungnahme vom 2.8.2018 an VG Magdeburg, S. 5; EASO, Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S.n 45 ff.).

Eine Bestrafung von eritreischen Staatsangehörigen allein wegen illegaler Ausreise und damit einhergehender Umgehung des Nationaldienstes knüpft jedoch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an die politische Überzeugung der Betroffenen an.(vgl. ebenso OVG Hamburg, Urteil vom 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A –, juris). Dies wäre nur der Fall, wenn der Betroffene eine Behandlung erleidet, die härter ist als sie sonst zur Verfolgung von der Gefährlichkeit her vergleichbarer nicht politischer Straftaten im jeweiligen Verfolgerstaat üblich ist (sog. "Politmalus").(vgl. BVerwG, Urteil. vom 19.4.2018 – 1 C 29.17 –, NVwZ 2018, 1408). Demgegenüber liegt grundsätzlich keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient. So liegt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung in Sanktionen, die an eine Wehrdienstentziehung anknüpfen, nicht schon für sich allein politische Verfolgung.(vgl. BVerwG, Urteile vom 19.8.1986 – 9 C 322.85 –, DVBl 1987, 47 und vom 6.12.1988 – 9 C 22.88 –, BVerwGE 81, 41) Das Bundesverwaltungsgericht hat in mehreren Entscheidungen zu Syrien diese Rechtsprechung ausdrücklich bestätigt, wonach an eine Wehrdienstentziehung anknüpfende Sanktionen allgemein auch bei totalitären Staaten grundsätzlich nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung darstellen, wenn sie gerade den Betroffenen darüber hinaus zusätzlich speziell wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder wegen eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen.(vgl. BVerwG, Beschluss vom 24.4.2017 – 1 B 22.17 -, Rn 10 m.w.N.).

Ausgehend davon ist nach einer Gesamtwürdigung der vorliegenden Erkenntnisse nicht festzustellen, dass in Eritrea die strafrechtliche Sanktionierung von illegaler Ausreise und Umgehung des Nationaldienstes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zielgerichtet eingesetzt wird, um betroffene Personen wegen einer ihnen, gegebenenfalls auch zu Unrecht, zugeschriebenen politischen Überzeugung zu treffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.4.2018 – 1 C 29.17 –, NVwZ 2018, 1408, OVG Hamburg, Urteil vom 21.9.2018 - 4 Bf 186/18.A -, juris mit weiteren Nachweisen). Zwar könnte die außergerichtliche Sanktionierungspraxis für die hier in Rede stehenden Delikte auf eine hinter der Bestrafung stehende politische Motivation des eritreischen Staates hindeuten. Für eine entsprechende Zielrichtung der regelhaft unverhältnismäßig harten Bestrafung unter menschenrechtswidrigen Bedingungen könnte auch sprechen, dass der Nationaldienst in Eritrea als politisches Projekt neben der Verteidigung auch dem Wiederaufbau des Landes und als "Schule der Nation" der Vermittlung einer nationalen Ideologie dienen soll.(vgl. EASO, Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32). Allerdings spricht das breite Spektrum möglicher Sanktionen gegen die Annahme, dass ihnen generell ein politischer Charakter zukommt. Neben den Haftstrafen, die für sich genommen eine Spanne von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren umfassen können, kann die Bestrafung auch nur in einer Belehrung liegen.(vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 25.2.2018 (Stand: November 2017), S. 19) Würde der eritreische Staat allen Personen, die illegal ausgereist sind und dadurch die Ableistung des Nationaldienstes umgangen haben, generell eine Regimegegnerschaft unterstellen, wäre zu erwarten, dass er diesem Umstand in der Bestrafungspraxis auch Rechnung trägt und alle Betroffenen im Wesentlichen gleichermaßen hart bestraft. Gegen eine politische Zielrichtung spricht ferner der Zweck der Sanktionierungsmaßnahmen, die der Erzwingung von Geständnissen, Informationsgewinnung, Bestrafung für angebliches Fehlverhalten sowie der Schaffung eines allgemeinen Klimas der Angst zur Aufrechterhaltung der Disziplin und völkerrechtswidrigen Kontrolle über die eigene Bevölkerung dienen. Damit zielen sie aber nicht individuell auf eine (unterstellte) politische Überzeugung der Betroffenen ab, sondern sind vielmehr Ausdruck des totalitären Herrschaftsanspruchs des eritreischen Regimes, dessen Durchsetzung gegenüber der Bevölkerung für sich genommen noch keine politische Verfolgung darstellt.(vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A –, juris, mit weiteren Nachweisen).

Gegen die Annahme, dass der eritreische Staat jedem eritreischen Staatsbürger, der illegal ausgereist ist und dadurch den Nationaldienst umgeht, generell eine Regimegegnerschaft beziehungsweise oppositionelle politische Überzeugung unterstellt, spricht weiter, dass der Nationaldienst in Eritrea neben Verteidigungszwecken vor allem der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, der Steigerung der Gewinne staatlich unterstützter Unternehmen und der Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eritreische Bevölkerung dient. Angehörige des militärischen Teils des Nationaldienstes leisten ihren Dienst nicht allein im eritreischen Militär, sondern auch beim Aufbau von Infrastruktur, etwas dem Bau von Wohnungen, Dämmen, Straßen, Kliniken oder Schulen, und in der Landwirtschaft.(vgl. dazu den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 25.2.2018 (Stand: November 2017), S. 12) Angehörige des zivilen Teils des Nationaldienstes arbeiten zudem in Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung.(vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Nationaldienst, vom 30.6.2017, S. 7.; Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22.6.2016, S. 11 f.) Auch die Möglichkeit, dass illegal ausgereiste Eritreer, die sich im Ausland aufhalten, gegen Zahlung einer sogenannten Aufbau- bzw. Diasporasteuer ("2 %-Steuer") und im Falle einer Nichterfüllung der Nationaldienstpflicht durch Unterzeichnung eines sogenannten "Reueformulars" ("letter of regret") sogar Reisepässe erhalten,(vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und Diaspora-Steuer, S. 8; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 1.6.2017 zu Eritrea: Ausstellung von Pässen in Khartum, S. 1 f.) in der Regel unbehelligt nach Eritrea ein- und wieder ausreisen und sich dort jedenfalls vorübergehend, etwa zu Besuchszwecken, aufhalten können,(vgl. amnesty international, Stellungnahme vom 2.8.2018 an VG Magdeburg, S. 9; Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, vom 22.6.2016, S. 32 ff., 41, 43) macht deutlich, dass der eritreische Staat von einer Bestrafung solcher Personen ohne Rücksicht auf deren (vermeintlich) abweichende politische Überzeugung zugunsten ökonomischer Interessen absieht.(vgl. dazu auch BVerwG, Urteil. vom 19.4.2018 – 1 C 29.17 –, NVwZ 2018, 1408) Auch wenn die mit dem Diaspora-Status verbundene freiwillige Rückkehrmöglichkeit insbesondere vor dem Hintergrund des willkürlichen Agierens der eritreischen Behörden keine hinreichende Sicherheit vor einer Bestrafung bieten und der Diaspora-Status und die damit einhergehenden Privilegien auf drei Jahre befristet sind und danach die zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden staatsbürgerlichen Pflichten des Militär- und nationalen Dienstes erneut greifen,(vgl. amnesty international, Stellungnahme vom 28.7.2018 zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, S. 2) spricht gleichwohl die bloße Eröffnung der Rückkehrmöglichkeit durch den eritreischen Staat erheblich dagegen, dass zurückkehrenden Personen, die illegal ausgereist waren und den Nationaldienst nicht abgeleistet haben, generell eine politische Gegnerschaft zugeschrieben wird.(so auch OVG Hamburg, Urteil vom 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A –, juris) Vor allem aber kann aufgrund der massenhaften Flucht tausender eritreischer Staatsangehöriger nicht festgestellt werden, dass der eritreische Staat jedem einzelnen Flüchtenden generell eine oppositionelle politische Haltung unterstellt.

Ende des Jahres 2016 waren weltweit bereits 459.400 eritreische Staatsangehörige – bei einer Gesamtbevölkerung Eritreas von 5,2 Millionen – als Flüchtlinge registriert. Seit Anfang 2017 wurde ein akuter Anstieg der Flüchtlinge festgestellt. Es wird davon ausgegangen, dass monatlich etwa 5.000 Menschen aus Eritrea flüchten (vgl. pro Asyl: Eritrea, ein Land im Griff einer Diktatur, vom 3.5.2018, S. 7-9). Bei einem solchen Massenexodus muss auch dem eritreischen Staat bewusst sein, dass die übergroße Zahl der Emigranten Eritrea in erster Linie aufgrund der prekären Lebensbedingungen im Nationaldienst und aufgrund allgemeiner wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und nicht aufgrund einer regimefeindlichen Haltung verlässt.

Auch wegen der von ihr behaupteten Desertion ihres Vaters und der angeblichen zweimaligen Festnahme ihrer Schwester, als diese versucht habe nach Äthiopien zu fliehen, droht der Klägerin, die selbst ist nicht in irgendeiner Weise als Gegnerin des in Eritrea herrschenden Regimes in Erscheinung getreten ist, im Fall einer (unterstellten) Rückkehr nach Eritrea nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG. Eine Bestrafung wegen Desertion stellt, sofern diese nicht mit einem Politmalus verbunden ist, mangels Anknüpfung an ein Verfolgungsmerkmal i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG keine flüchtlingsrelevante Verfolgung dar.(vgl. OVG des Saarlandes, Urteil vom 30.10.2018 - 2 A 254/18 -) Ist schon der Desertierende deshalb grundsätzlich nicht von politischer Verfolgung bedroht, so gilt dies erst recht für seine Familienangehörigen. Zwar gibt es Berichte über eine Reflexverfolgung von Familienangehörigen von desertierten oder illegal ausgereisten Personen in Eritrea.(vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und Diaspora-Steuer, vom 30.9.2018, S. 6 f. (m.w.N.)) Die von dem Entzug von Lebensmittelgutscheinen oder Geschäftslizenzen sowie der Beschlagnahmung von Eigentum bis hin zu der Inhaftierung von Familienangehörigen reichenden Maßnahmen knüpfen jedoch nicht an eine bei dem betreffenden Familienangehörigen vermutete politische Gesinnung an, sondern dienen dazu, die Familie unter Druck zu setzen, damit sich der Geflüchtete stellt oder die Familie eine Geldbuße von bis zu 50.000 Nakfa zahlt.(vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und Diaspora-Steuer, vom 30.9.2018, S. 7) Auch aus der Vielzahl der Geflüchteten und der demnach hohen Zahl von einer Reflexverfolgung potentiell betroffener Familien ergibt sich, dass die erwähnten Maßnahmen nicht aufgrund einer individuell unterstellten politischen Überzeugung des betreffenden Familienangehörigen erfolgen, sondern Ausdruck des totalitären Herrschaftsanspruchs des eritreischen Regimes sind und den Sicherheitskräften als Einnahmequelle dienen. [...]