OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 19.05.2017 - 1 Bs 207/16 - asyl.net: M27629
https://www.asyl.net/rsdb/M27629
Leitsatz:

Vergangene Identitätstäuschung kann bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG berücksichtigt werden:

"Auch wenn über einen Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumens der Klagefrist das Verwaltungsgericht zu entscheiden hat (§ 60 Abs. 4 VwGO), hat das Oberverwaltungsgericht im Rahmen einer Beschwerde im einst­weiligen Rechtsschutzverfahren eine Prognose über den voraussichtlichen Erfolg dieses Antrags zu stellen.

Sichert ein Ausländer seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG), kommt es auf die gesetzliche Alternative einer positiven Prognose künftiger Lebensunterhaltssicherung aufgrund der bisherigen Schul-, Ausbildungs-, Einkommens- sowie der familiären Lebenssituation nicht an.

Hat ein Ausländer in der Vergangenheit über seine Identität getäuscht und/oder sich geweigert, an der Beseitigung von Ausreisehindernissen mitzuwirken, lässt dies, wenn das Fehlverhalten inzwischen korrigiert wurde, eine Anwendung von § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nicht zu. Die Korrektur des Fehlverhaltens rechtfertigt aber nicht schon, das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten gänzlich unberücksichtigt zu lassen.

Mit Wortlaut und Systematik von § 25b Abs. 1 und 2 AufenthG ist es kaum zu vereinbaren, aufgrund des früheren Fehlverhaltens schon die Annahme einer nachhaltigen Integration im Sinn des Gesetzes zu verneinen. Zurückliegendes Fehlverhalten wird auch häufig nicht mehr geeignet sein, ein noch aktuelles Ausweisungsinteresse im Sinn von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu begründen.

Je nach den Umständen des Einzelfalls kann zurückliegendes Fehlverhalten aber einen Ausnahmefall vom Sollanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG begründen. Die Frage, ob ein Ausnahmefall vorliegt, ist eine gerichtlich voll nachprüfbare, rechtlich gebundene Entscheidung. Bei Vorliegen eines Ausnahmefalles entscheidet die Ausländerbehörde nach Ermessen über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis."

(Amtliche Leitsätze, ähnlich auch VGH Bayern, Beschluss vom 15.10.2019 - 19 CS 18.164 - asyl.net: M28856)

Schlagwörter: Bleiberecht, Sicherung des Lebensunterhalts, Prognose, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Täuschung über Identität, Vertretenmüssen, Ausschlussgrund,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 1 S. 2, AufenthG § 25b Abs. 1 S. 1, AufenthG § 25b Abs. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

29 Angesichts dessen kommt es auf die gesetzliche Alternative einer positiven Prognose künftiger Lebensunterhaltssicherung aufgrund der bisherigen Schul-, Ausbildungs-, Einkommens- sowie der familiären Lebenssituation nicht an. Das Gesetz stellt in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG die beiden dort genannten Möglichkeiten durch Verwendung des Wortes "oder" als Alternativen nebeneinander. [...]

31 aa) § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG schließt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nur für den Fall zwingend aus, dass der Ausländer (noch) aktuell die Aufenthaltsbeendigung u.a. durch Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen verhindert oder verzögert (so auch Samel in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 31; Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 21; OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.9.2015, 2 M 121/15, EzAR-NF 33 Nr. 45, juris Rn. 10; OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 8). Dies ergibt sich klar aus der Verwendung der Präsensform "verhindert oder verzögert" im Gesetzestext und entspricht auch dem gesetzgeberischen Willen (vgl. BT-Dr. 18/4097, S. 44 zu Absatz 2 Nr. 1: "Diese Regelung knüpft nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers an, …"), auch wenn einzuräumen ist, dass die Gesetzesbegründung hier nicht widerspruchsfrei ist. So heißt es kurz vorher (a.a.O., zu Absatz 2), die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei ausgeschlossen, wenn der Ausländer … "die Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich verhindert oder hinausgezögert hat."

32 bb) Die Verwendung der Präsensform in § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG rechtfertigt für sich allerdings nicht, das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Dem stehen verschiedene Öffnungsmöglichkeiten im Gesetzestext (Abs. 1 Satz 1: "soll"; Abs. 1 Satz 2: "regelmäßig"; Anwendbarkeit von § 5 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 Satz 2 AufenthG) sowie Formulierungen in der Gesetzesbegründung entgegen. So soll die Anknüpfung "nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers" im Ausschlussgrund nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG "keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren" sein (BT-Drs. 18/4097, S. 44). Allerdings bleibt offen, an welcher Stelle der Normanwendung das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten berücksichtigt werden soll (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 11.4.2017, 1 Bs 55/17, juris Rn. 13 ff.).

33 cc) Verschiedentlich wird angenommen, aufgrund früheren Fehlverhaltens könne ausnahmsweise die Annahme einer nachhaltigen Integration im Sinn des Gesetzes verneint werden (so OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 8 ff.; offengelassen von OVG Bautzen, Beschl. v. 2.9.2016, 3 B 368/16, juris Rn. 6; ablehnend Kluth in: Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 2016, § 25b AufenthG Rn. 10). Dem schließt sich der Senat nicht an.

34 Schon rein tatsächlich wird eine Integration nicht zu bestreiten sein, wenn ein illegal eingereister Ausländer rasch gut Deutsch lernt, einen guten Schul- oder Berufsabschluss erreicht, danach einen qualifizierten Arbeitsplatz mit gutem Verdienst erhält und sich im übrigen auch noch sozial oder im Bereich des Sports (z.B. Trainer) engagiert, allerdings – aus welchen Gründen auch immer – über längere Zeit über seine Identität getäuscht hat. [...]

39 Schließlich führt § 25b Abs. 2 AufenthG bestimmte Verhaltensweisen bzw. Bestrafungen (bzw. ein daraus folgendes Ausweisungsinteresse) erst als zwingende Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 aus. Das lässt darauf schließen, dass das in Absatz 2 erfasste Fehlverhalten gesetzessystematisch nicht schon zur Verneinung einer nachhaltigen Integration führt, da sonst hätte formuliert werden können: "Eine nachhaltige Integration liegt nicht vor, wenn …". Allerdings ist einzuräumen, dass die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 45 zu Abs. 2 Nr. 2) dies anders zu sehen scheint, wenn es dort heißt, bei Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG n.F werde "ebenfalls regelmäßig keine nachhaltige Integration gegeben sein" (ähnlich in Teil I der AAH). Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass – wie gezeigt – wiederholt zwischen dem Gesetzestext und der Begründung des Gesetzentwurfs gewisse Brüche bestehen. [...]

42 ee) Ein in der Vergangenheit liegendes Fehlverhalten in Form von Identitätstäuschungen, fehlender Mitwirkung an der Beseitigung von Ausreisehindernissen o.ä. lässt sich systematisch am besten in der Form erfassen, dass es als möglicher Ausnahmefall von der Regelerteilungsnorm des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG angesehen wird (so wohl auch Hailbronner, a.a.O., § 25b AufenthG Rn. 9; OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.9.2015, 2 M 121/15, EzAR-NF 33 Nr. 45, juris Rn. 10; angedeutet auch bei OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 15, dort wohl unter Vertauschung von Satz 1 und 2).

43 § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG räumt nur einen Soll-Anspruch ein. Das ermöglicht es, besondere Umstände zu berücksichtigen und im Hinblick auf diese die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis trotz vorliegender nachhaltiger Integration ausnahmsweise zu versagen (vgl. zur Bedeutung einer Soll-Regelung: BVerwG, Urt. v. 17.12.2015, 1 C 31.14, BVerwGE 153, 353, juris Rn. 21 f.). [...]