VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 15.01.2019 - 1 A 7299/16 - asyl.net: M27631
https://www.asyl.net/rsdb/M27631
Leitsatz:

Zum Inhalt des norwegischen Asylverfahrens:

"1. Das Asylverfahren in Norwegen umfasst grundsätzlich eine vollständige Prüfung der Tatbestände des Art. 15 der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU).

2. Die Einholung eines sog. "info-request" nach Art. 34 der Dublin III-VO (Verordnung (EU) Nr. 604/2013) ist grundsätzlich geeignet, um eine Feststellung zu dem erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens i.S.d. § 71a AsylG treffen zu können."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Zweitantrag, Norwegen, Sachaufklärungspflicht, Prüfungsumfang, info-request,
Normen: VO 604/2013 Art. 34, AsylG § 71a,
Auszüge:

[...]

20 (a) Nach richtlinienkonformer Auslegung des § 71a AsylG muss das erfolglos abgeschlossene Asylverfahren neben der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft auch die vollständige Prüfung des subsidiären Schutzes umfassen (vgl. dazu im Einzelnen VG Hamburg, Beschl. v. 14.7.2016, 1 AE 2790/16, juris Rn. 16; VG Lüneburg, Beschl. v. 15.11.2018, 3 B 15/18, juris Rn. 38 m.w.N.).

21 Es bestehen keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass das Prüfprogramm des in Norwegen gestellten Asylantrags nicht auch die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes i.S.d. Art. 15 der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl. L 337/9) umfasste. Soweit in dem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes durch dieses Gericht (1 AE 7300/16) noch angeführt wurde, es bestünden ernstliche Zweifel, dass in dem hier maßgeblichen Zeitraum das norwegische Asylverfahren eine vollständige Prüfung des subsidiären Schutzes, insbesondere des Art. 15 lit. c) der Qualifikationsrichtlinie, beinhaltet habe, bestehen diese Zweifel nach erneuter Prüfung nicht fort.

22 Gemäß Art. 28 des zum 1. Januar 2010 in Kraft getretenen norwegischen Ausländergesetzes vom 15. Mai 2008 (Lov om utlendingers adgang til riket og deres ophold her – utlendingsloven) wird ein ausländischer Staatsangehöriger auf Antrag als Flüchtling anerkannt, wenn er (a) begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Herkunft, Hautfarbe, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus Gründen seiner politischen Überzeugung hat und den Schutz seines Heimatlandes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht in Anspruch nehmen will, oder (b), ohne in den Anwendungsbereich von (a) zu fallen, gleichwohl der tatsächlichen Gefahr ausgesetzt ist, nach Rückkehr in das Heimatland der Todesstrafe, Folter oder anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden (Text mit englischer Übersetzung abrufbar unter lovdata.no/dokument/ NLE/lov/2008-05-15-35). Damit sind dem Wortlaut nach jedenfalls die Art. 15 lit. a) und lit. b) der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt worden. Dagegen wurde Art. 15 lit. c) der Qualifikationsrichtlinie nicht in das norwegische Recht umgesetzt. Der norwegische Gesetzgeber hat bewusst auf eine wörtliche Umsetzung des Art. 15 lit. c) der Qualifikationsrichtlinie verzichtet, weil er dessen Anwendungsbereich bereits von dem Tatbestandsmerkmal des Schutzes vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i.S.d. Art. 15 lit. b) der Qualifikationsrichtlinie bzw. Art. 3 EMRK erfasst sieht. Offenbar befürchtete der norwegische Gesetzgeber, dass bei einer wörtlichen Umsetzung des Art. 15 lit. c) der Qualifikationsrichtlinie Missverständnisse über den Anwendungsbereich des subsidiären Schutzes entstehen könnten, insbesondere im Hinblick auf Personen, die nicht aufgrund eines Kriegszustandes oder massiver Gewalt Schutz beanspruchen (vgl. dazu emn.ee/wpcontent/ uploads/2016/03/Compilation_wider-dissemination_-_ad-hoc_query_on_asylum_seekers_from_afghanistan_5.pdf). Demnach soll der Schutz vor Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auch den Schutz vor einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.S.d. Art. 15 lit. c) der Qualifikationsrichtlinie erfassen (vgl. dazu die Erläuterung des Gesetzesvorschlags des norwegischen Ministeriums für Arbeit und Inklusion, Ot.prp.nr. 75, 2006 - 2007, S. 94 f.; abrufbar unter www.stortinget.no/no/Saker-og-publikasjo ner/Saker/Sak/?p=37763; vgl. auch VG Lüneburg, Beschl. v. 15.11.2018, 3 B 15/18, juris Rn. 38; VG München Beschl. v. 28.2.2018, M 16 S 17.47946, juris Rn. 22). Dies verdeutlicht auch eine Entscheidung des norwegischen Grand Board of the Immigration Appeals Board (UNE) aus Oktober 2010, der ebenfalls entnommen kann, dass Art. 28 Abs. 1 lit. b) des norwegischen Ausländergesetzes Art. 15 lit. c) der Qualifikationsrichtlinie abdecken soll und dass die entsprechende Praxis der EU-Mitgliedstaaten zu dieser Norm eine zu berücksichtigende Quelle für Norwegen sei (vgl. emn.ee/wp-content/uploads /2016/03/Compilation_wider-dissemination_-_adhoc_query_on_asylum_seekers_from_ afghanistan_5.pdf).

23 Es kann dabei dahinstehen, ob auf den bereits vor Inkrafttreten des aktuellen norwegischen Ausländergesetzes gestellten Asylantrag des Antragstellers andere Regelungen anzuwenden gewesen sein sollten. Denn das norwegische Ausländergesetz enthält keine Übergangsregelungen (vgl. Art. 140 des norwegischen Ausländergesetzes), so dass davon auszugehen ist, dass es unmittelbar nach Inkrafttreten am 1. Januar 2010 auf alle noch ausstehenden Verfahren zur Anwendung kam. Da die endgültige Entscheidung über das norwegische Asylverfahren des Klägers am 3. Juni 2011 erging, ist davon auszugehen, dass Art. 28 des norwegischen Ausländergesetzes im Asylverfahren des Klägers geprüft wurde.

24 (b) Das norwegische Asylverfahren des Klägers ist auch abgeschlossen i.S.d. § 71a AsylG. Dies setzt voraus, dass der vorausgegangene negative Ausgang des Asylverfahrens durch rechtskräftige Sachentscheidung festgestellt wird und feststeht; bloße Mutmaßungen genügen nicht. Dies bedeutet, dass das Bundesamt zu der gesicherten Erkenntnis gelangen muss, dass das Asylerstverfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Sachentscheidung endgültig wurde (vgl. BVerwG Urt. v. 14.12.2016, 1 C 4/16, juris Rn. 29 ff.; VG Hamburg, Beschl. v. 20.7.2018, 8 AE 3383/18, juris Rn. 7 f. m.w.N.).

25 Dies ist vorliegend der Fall. Die Beklage hat ein sog. "info request" nach der sog. Dublin III-Verordnung (Verordnung Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013, ABl. 180/31) bei den norwegischen Behörden eingeholt (vgl. Bl. 88 d.A.). Darin teilte die norwegische Ausländerbehörde mit, dass der Asylantrag des Klägers durch Entscheidung vom 3. Juni 2011 endgültig abgelehnt wurde. Diese Information ist für die Feststellung des erfolglosen Abschlusses des Asylverfahrens i.S.d. § 71a AsylG grundsätzlich ausreichend (vgl. dazu eingehend VG Regensburg, Beschl. v. 9.10.2017, RN 5 S 17.34611, juris Rn. 14 ff.; s.a. VG Hamburg, Beschl. v. 20.7.2018, 8 AE 3383/18, juris Rn. 9; VG München, Beschl. v. 4.9.2017, M 21 S 17.45996, juris Rn. 17 f.). Dazu kommt, dass der Kläger ausgeführt hat, er habe neun Mal Rechtsmittel gegen die ablehnenden Entscheidungen der norwegischen Behörden eingelegt (vgl. Bl. 68 d.A.). Auch dies spricht für den endgültigen Abschluss des Verfahrens. Es war daher nicht erforderlich, über das "info request" weitere Informationen bei den norwegischen Behörden über das dortige Asylverfahren des Klägers einzuholen. Im Übrigen hätte es angesichts dieser Sachlage dem Kläger oblegen, die ablehnenden norwegischen Entscheidungen vorzulegen und Gründe darzulegen, die gegen den erfolglosen Abschluss des Verfahrens sprechen (vgl. zu den Mitwirkungspflichten des Asylbewerbers VG Regensburg, Beschl. v. 9.10.2017, RN 5 S 17.34611, juris Rn. 13; VG Frankfurt / Oder, Beschl. v. 9.3.2017, 6 L 203/17.A, juris Rn. 9). [...]