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SG Mainz

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Zitieren als:
SG Mainz, Urteil vom 30.07.2019 - S 14 AS 260/19 - asyl.net: M27641
https://www.asyl.net/rsdb/M27641
Leitsatz:

Leistungen nach SGB II für in Deutschland geborene Kinder von EU-Staatsangehörigen:

1. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II gilt nach S. 4 nicht für EU-Staatsangehörige, die seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben.

2. Diese Rückausnahme gilt auch für in Deutschland geborene Kinder von EU-Staatsangehörigen, die noch nicht fünf Jahre alt sind, und für ihre Familienangehörigen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: gewöhnlicher Aufenthalt, Fünfjahresfrist, in Deutschland geborenes Kind, freizügigkeitsberechtigt, Freizügigkeitsrecht, Sozialleistungen, Sozialrecht, Daueraufenthalt, EU-Staatsangehörige, Leistungsausschluss, Aufenthaltsdauer, Rückausnahme, SGB II,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, SGB II § 7 Abs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

93 Die Kläger zu 3, 7 und 8 haben dem Grunde nach Anspruch auf Grundsicherungsleistungen seit dem 7. März 2019.

94 Auch dieser Anspruch ergibt sich aus der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II, die auch für Familienangehörige gilt. Die Regelungen war teleologisch zu reduzieren.

95 Nach dem klaren Wortlaut gilt diese Regelung zwar nur für Familienangehörige, die seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Anders kann diese Norm nicht gelesen und ausgelegt werden. Dies war auch grundsätzlich von den Verfassern des Gesetzentwurfs so gewollt. [...]

101 Diese Rechtsauslegung steht jedoch bei leiblichen, in Deutschland geborenen und aufwachsenden Kindern eines Ausländers, die noch nicht fünf Jahre alt sind, in einem Konflikt mit Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie zunächst als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern. Dieser beschriebenen verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1999 – 2 BvR 1523/99). § 6 Abs. 1 S. 4 SGB II führte bei unter fünfjährigen leiblichen Kindern, die in Deutschland geboren sind und aufwachsen – wie die Kläger zu 3, 7 und 8 – dass nur der Lebensunterhalt eines Teils der Familie gedeckt wird und die Kopfanteile an den Unterkunftskosten ungedeckt bleiben. Faktisch könnte eine solche Familie aufgrund der jungen Kinder den gesetzlichen Anspruch aus § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht in Anspruch nehmen und müsste sich auftrennen. Dies stünde im Wertungswiderspruch zu Art. 6 Abs. 1 GG. Die Unterdeckung des Existenzminimums stünde überdies im Konflikt mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Dieses sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.

102 Es war eine teleologische Reduktion dahingehend vorzunehmen, dass die Fünfjahresfrist in § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht auf Familienangehörige zu beziehen ist, die als leibliche Kinder in Deutschland geboren wurden und hier aufwachsen.

103 Das Gericht war hier zu einer teleologischen Reduktion befugt, da hier ein Wertungswiderspruch aufzulösen war.

104 Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Die Gerichte sind kraft der Bindungswirkung einschlägig gültiger Normen zu deren Anwendung verpflichtet und dürfen sich über diese Gesetzesbindung nicht hinwegsetzen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) schließt es aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 26. September 2011 - 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 - und vom 23. Mai 2016 - 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15). Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter nicht, das Recht fortzuentwickeln. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird (BVerfGE 126, 286, 306.) Der Befugnis zur "schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung" sind allerdings mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung Grenzen gesetzt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Mai 2016 - 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15 - NJW-RR 2016, 1366 Rn. 37 m.w.N.). Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Eine der ausnahmsweise zulässigen Methoden ist die teleologische Reduktion. Die Eigenart der teleologischen Reduktion besteht - als Gegenstück zur Analogie - darin, dass sie die auszulegende Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle für unanwendbar hält, weil Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. April 1997 - 1 BvL 11/96 - NJW 1997, 2230 <2231>). Bei einer derart planwidrigen Gesetzeslücke ist eine zu weit gefasste Regelung im Wege teleologischer Reduktion auf den ihr nach Sinn und Zweck zugedachten Anwendungsbereich zurückzuführen (BVerwG, Urteil vom 9. Februar 2012 - 5 C 10.11 - BVerwGE 142, 10 Rn. 15; ).BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 – 1 C 15/18 – juris Rn. 18).

105 Vorliegend hat der Gesetzgeber erkennbar keine spezifische Regelung die Gruppe der in Deutschland geborenen und aufwachsenden Kinder eines Ausländers, die das fünfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, getroffen. Er hat vielmehr ein Regelungskonzept verfolgt, nachdem Familienangehörige ebenfalls fünf Jahre ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben müssen, bevor ihr Aufenthalt als verfestigt gelten kann und sie bis zur aufenthaltsrechtlichen Beendigung ihres Aufenthalts leistungsberechtigt sind. Andernfalls sei ihnen die Ausreise in ihr Herkunftsland zumutbar.

106 Im Umgang mit Kleinkindern ist die Verfolgung des Regelungskonzepts ohne Eltern nicht möglich. Ihr Verhältnis zu den Eltern ist vielmehr durch Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes verfassungsmäßig geschützt. Das Gesetz differenziert dies ungewollt nicht. Es gibt keinen Anhalt dafür, dass der Gesetzgeber bewusst gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoßen wollte.

107 Der Gesetzeswortlaut des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II ist dahingehend zu reduzieren, dass leibliche Kinder eines Ausländers, der diese Norm erfüllt, die in Deutschland geboren sind und aufwachsen und das fünfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nur für ihre Lebensdauer ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben müssen. [...]