BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 25.06.2019 - 1 C 40.18 - asyl.net: M27651
https://www.asyl.net/rsdb/M27651
Leitsatz:

Rechtmäßigkeit neuer Beschränkungen der Freizügigkeit für türkische Arbeitnehmer*innen:

"1. Die Rechtmäßigkeit neuer Beschränkungen der Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer, die zwischen dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 2/76 und dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei eingeführt wurden, ist anhand von Art. 7 ARB 2/76 zu prüfen.

2. Die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 erfasst auch eine nationale Regelung, mit der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer von der Erteilung eines nationalen Visums abhängig gemacht wird (hier: Einführung der Visumspflicht für türkische Staatsangehörige durch Art. 1 der Elften Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes <DVAuslG> vom 1. Juli 1980 <BGBl. I S. 782>).

3. Ein solches nationales Visumerfordernis kann durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, insbesondere durch das Ziel einer effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme, gerechtfertigt sein, wenn besonderen Umständen des Einzelfalls durch eine Härtefallklausel Rechnung getragen wird."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, Türkei, Türkischer Arbeitnehmer, Ehegattennachzug, Stillhalteklausel, Visumsverfahren, nationales Visum, türkische Staatsangehörige,
Normen: AufenthG § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 6, AufenthG § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 2, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 6 Abs. 3, ARB 1/80 Art. 13, ARB 2/76 Art. 7
Auszüge:

[...]

21 1.2 Die generelle Visumpflicht für türkische Staatsangehörige, die durch Art. 1 der Elften Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) vom 1. Juli 1980 (BGBl. I S. 782) mit Wirkung vom 5. Oktober 1980 eingeführt wurde, verstößt entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts nicht gegen das "Stillhaltegebot" des Art. 7 ARB 2/76. Die Visumpflicht zur Familienzusammenführung fällt als "neue Beschränkung" zwar in den zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich der assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 (1.2.1). Sie ist aber aus Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationskontrolle gerechtfertigt und geht mit Blick auf die Möglichkeit, nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von der Einreise mit dem erforderlichen Visum abzusehen, bei unionsrechtskonformer Auslegung insbesondere nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus (1.2.2).

22 1.2.1 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in seinem Urteil vom 7. August 2018 - C-123/17 [ECLI:EU:C:2018:632], Yön - entschieden, dass die Einführung des Visumzwanges mit Wirkung vom 5. Oktober 1980 sowohl in den zeitlichen (Rn. 40 ff.) als auch in den sachlichen (Rn. 57 ff.) Anwendungsbereich des Art. 7 ARB 2/76 fällt und eine "neue Beschränkung" für die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch einen türkischen Staatsangehörigen bewirkt (Rn. 71), weil sie die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung verschärft (Rn. 68, 71; s.a. EuGH, Urteil vom 29. März 2017 – C-652/15 [ECLI: EU:C:2017:239], Tekdemir - Rn. 31).

23 1.2.2 Der EuGH hat in seinem Urteil aber auch seine inzwischen gefestigte Rechtsprechung (s. nur EuGH, Urteile vom 7. November 2013 - C-225/12 [ECLI:EU:C:2013:725], Demir - Rn. 40; vom 10. Juli 2014 - C-138/13 [ECLI:EU: C:2014:2066], Dogan - Rn. 37; vom 12. April 2016 - C-561/14 [ECLI:EU:C:2016: 247], Genc -Rn. 51 ff. und vom 29. März 2017 - C-652/15 - Rn. 39 ff.) bekräftigt, dass eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 7 ARB 2/76 zulässig sein kann, wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten und nicht über das dafür Erforderliche hinausgeht. Dies ist hier der Fall (s. bereits BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 2017 - 1 C 1.16 - BVerwGE 157, 221 Rn. 34 f.).

24 Die Einführung des Visumzwanges für türkische Staatsangehörige war hier im Interesse einer effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme und damit aus auch unionsrechtlich anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses (EuGH, Urteil vom 7. August 2018 - C-123/17 - Rn. 77) geeignet und erforderlich (s. bereits BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 2017 - 1 C 1.16 - BVerwGE 157, 221 Rn. 35 f.). Das für die Einreise zum Ehegattennachzug erforderliche Visum soll gewährleisten, dass die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für den Nachzug bereits vor der Einreise geprüft werden (s.a. EuGH, Urteil vom 7. August 2018 - C-123/17 - Rn. 79 f.).

25 Die Visumpflicht geht auch nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus (zu diesem Erfordernis EuGH, Urteil vom 7. August 2018 - C-123/17 - Rn. 81 ff.) und ist in diesem Sinne auch verhältnismäßig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Visumverfahren nur eine Verzögerung, nicht aber eine dauernde Verhinderung des ehelichen Zusammenlebens bewirkt (BVerwG, Urteil vom 11. Januar 2011 - 1 C 23.09 - BVerwGE 138, 353 Rn. 31). Die Wahrung der Verhältnismäßigkeit auch im Einzelfall ermöglicht das nationale Recht 23 in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG mittels einer Härtefallklausel, durch die besonderen Umständen des Einzelfalls, die die Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar machen, Rechnung getragen werden kann. Die Einreise ohne das erforderliche Visum führt danach nicht "automatisch" zur Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Vielmehr ist vor einer derartigen Ablehnung in jedem Einzelfall zu prüfen, ob auf eine Nachholung des Visumverfahrens aufgrund besonderer Umstände zu verzichten ist. Bei dieser Entscheidung sind auch die Grundrechte der Betroffenen - namentlich das Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRC - zu berücksichtigen. Um einer nicht mehr verhältnismäßigen nachträglichen Beschränkung der Nachzugsvoraussetzungen entgegenzuwirken, ist § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG in diesen Fällen unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass bei Unzumutbarkeit, das Visumverfahren im Herkunftsland nachzuholen, das der Behörde eingeräumte Ermessen auf Null reduziert ist (s.a. EuGH, Urteil vom 7. August 2018 - C-123/17 - Rn. 86). [...]