VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 08.05.2019 - 1 K 3059/17 - asyl.net: M27667
https://www.asyl.net/rsdb/M27667
Leitsatz:

Nur subsidiärer Schutz wegen drohender Zwangsrekrutierung eines Minderjährigen im Sinai:

1. Ein minderjähriger Schutzsuchender, der von islamistischen Milizen im Sinai zwangsrekrutiert werden sollte, ist kein Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, da es am Verfolgungsgrund fehlt. Denn eine Rekrutierung droht dort unabhängig von flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmalen allen jungen Männern in der Region gleichermaßen.

2. Es ist jedoch subsidiärer Schutz zu gewähren. Denn dem Betroffenen ist interner Schutz verwehrt, da er über kein soziales Netzwerk außerhalb des Sinai verfügt und aufgrund seiner Herkunft aus dem Sinai von staatlicher Seite leicht verdächtigt wird, in Verbindung mit Terrorismus zu stehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ägypten, Zwangsrekrutierung, Sinai, interne Fluchtalternative, interner Schutz, minderjährig, islamische Milizen, Miliz, Terrorismus,
Normen: AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat jedoch Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. [...] Er hat glaubhaft vorgetragen, dass die islamistischen Milizen seinen Bruder bereits erschossen hatten und nunmehr ihn als Kämpfer rekrutieren wollten. Dieses Vorbringen entspricht auch der Auskunftslage zu den Verhältnissen auf dem Sinai, nach der islamistische Milizen dort Zivilisten bedrohen (Süddeutsche Zeitung vom 27.02.2017; FR-online vom 27.11.2017) und heftige Kämpfe zwischen Ihnen und den Regierungskräften stattfinden (Die Zeit vom 30.11.2017; DW vom 11.03.2019), so dass das staatliche Gewaltmonopol als eingeschränkt anzusehen ist (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 14.04.2018, S. 7, 12).

Vor der daraus resultierenden konkreten Gefahr konnte der Kläger nach Überzeugung des Gerichts auch entgegen der Argumentation des Bundesamtes sich nicht zumutbarer Weise in einem anderen Landesteil Ägyptens in Sicherheit bringen. Das Gericht geht zwar wie das Bundesamt in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Ägypter, die in ihrem Heimatort von anderen als dem ägyptischen Staat bedroht werden, regelmäßig beispielsweise in einer der Großstädte des Landes Sicherheit finden können, im Falle des Klägers gilt jedoch etwas anderes. In entsprechender Anwendung von § 3 e Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist bei der Prüfung zu berücksichtigen, ob er in einen anderen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen würde und vernünftigerweise von ihm erwartet werden könnte, dass er sich dort niederlässt. Der Kläger hatte zum Zeitpunkt seiner Ausreise keine inländische Fluchtalternative in diesem Sinne. Insofern ist zu berücksichtigen, dass der Kläger bei seiner Ausreise aus Ägypten erst 17 Jahre alt war und in einer ägyptischen Großstadt über kein soziales Netz verfügt hätte. Bewohner des Sinai sind zudem vielfach von Seiten staatlicher Kräfte dem Verdacht ausgesetzt, mit den dort verbreiteten Terroristen in Verbindung zu stehen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 14.04.2018, Seite 7; BAMF, Islamistischer Extremismus und Terrorismus, September 2007, S. 6), weshalb die Regierung ihnen strenge Reiserestriktionen auferlegt hat (US State Department, Egypt 2018 Human Rights Report, S. 18).

Nachdem der Kläger damit als vorverfolgt anzusehen ist, könnte ihm der subsidiäre Schutz nur versagt werden, wenn er heute in Ägypten vor den damals drohenden Gefahren sicher wäre (Hess VGH, a.a.O.). Das kann weder für seine Heimat auf dem Sinai noch für andere Bereiche in Ägypten hinreichend sicher festgestellt werden. [...]