VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 07.10.2019 - 7 K 3210/16.A - asyl.net: M27693
https://www.asyl.net/rsdb/M27693
Leitsatz:

Voraussetzung einer Bestrafung nach Gewohnheitsrecht in Afghanistan wegen außerehelicher Beziehung:

Nur eine intime außereheliche Beziehung stellt ein Zina-Verbrechen dar oder kann eine Blutfehde auslösen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Kabul, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, subsidiärer Schutz, extreme Gefahrenlage, Existenzgrundlage, Zina-Verbrechen, Blutrache, Zina,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Auszüge:

[...]

Insoweit beruft sich der Kläger auch nicht auf ein sogenanntes "Zina"-Vergehen (außerehelicher Geschlechtsverkehr) im strafrechtlich relevanten Sinne. Solche Vergehen stellen im afghanischen Strafgesetz von 1976 einen Straftatbestand dar. Sowohl Frauen als auch Männer werden wegen "Zina" strafrechtlich verfolgt und zu langen Haftstrafen verurteilt. Die Höchststrafe beträgt sieben Jahre, in Ausnahmefällen bis zu zehn Jahren, z.B. wenn die Frau verheiratet war. Zwar werden auch Männer wegen "Zina" bestraft, doch Frauen werden häufiger und in der Regel härter bestraft. Der Kläger stellt auch keine Umstände dar, die es plausibel nahelegen, dass er in eine Blutfehde (Vergeltung bei Ehrverletzungen - "badal") involviert war, die nach den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 eine besonders sorgfältige Prüfung der Risiken erforderlich macht. Zu den in Blutfehden verwickelten Personen heißt es dort (Seite 90 f.):

"Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu lang anhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt. Wenn die Familie des Opfers nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat".

Eine Tat, die zu einer Blutfehde führen kann (z.B. Entführung oder Vergewaltigung von Frauen und außereheliche intime Beziehungen zu Frauen), behauptet der Kläger aber gerade nicht. Er hat vielmehr sowohl in der Anhörung nach § 25 AsylG beim Bundesamt am 3. August 2016 als auch in der mündlichen Verhandlung vor Gericht am 7. Oktober 2019 zu Protokoll gegeben, das es keine intime Beziehung zu dem Mädchen gegeben habe. [...]