LG Magdeburg

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Zitieren als:
LG Magdeburg, Beschluss vom 02.10.2019 - 10 T 273/19 - Asylmagazin 5/2020, S. 174 ff. - asyl.net: M27701
https://www.asyl.net/rsdb/M27701
Leitsatz:

Belehrung über haftrechtliche Folgen von Mitwirkungspflichtverstößen muss tatsächlich zur Kenntnis gebracht werden: 

1. Das BAMF trifft die Beweispflicht für die Tatsache, dass die Belehrung über die haftrechtlichen Folgen eines nicht angezeigten Aufenthaltswechsels nach § 50 Abs. 4 AufenthG der betroffenen Person in einer ihr verständlichen Sprache tatsächlich zur Kenntnis gelangt ist. Die fehlende tatsächliche Kenntnisnahme wird nicht durch die Zustellungsfiktion des § 10 Abs. 4 S. 4 AsylG überwunden und führt zur Rechtswidrigkeit der Haft. 

2. Der Verstoß gegen die Anzeigepflicht stellt keine Entziehungshandlung im Sinne des § 62 Abs. 3a Nr. 5 AufenthG dar, da eine solche Handlung in den Anwendungsbereich des § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG fällt. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, flüchtig, Aufenthaltswechsel, Wechsel des Aufenthaltsorts, Belehrung, Übersetzung, Zustellung, Überstellungshaft, Abschiebungshaft, Fluchtgefahr, Beweislast, Sprache,
Normen: AufenthG § 50 Abs. 4, AsylG § 10 Abs. 4 S. 4, AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 3, VO 604/2013 Art. 28, AufenthG § 62 Abs. 3a Nr. 3, AufenthG § 62 Abs. 3a Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Der Beschluss des Amtsgerichts Halberstadt vom 24.05.2019, mit welchem die Haft des Beschwerdeführers zur Sicherung der Überstellung nach Italien angeordnet wurde, ist rechtswidrig, weil der Beschwerdeführer über die Folgen eines nicht angezeigten Aufenthaltswechsels nicht hinreichend belehrt worden ist.

Nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO (Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 06.06.2013) dürfen die Mitgliedstaaten zwecks Sicherstellung von Überstellungsverfahren nach einer Einzelfallprüfung die entsprechende Person in Haft nehmen, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr i.S.v. Art. 2 lit. n) der Verordnung besteht und wenn die Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

Die Fluchtgefahr wird nach § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG - der nach § 2 Abs. 14 S. 1 AufenthG auch für die Fälle des Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO gilt - widerleglich vermutet, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel begründet in diesem Fall die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird. Wegen dieser erheblichen Konsequenzen ist es grundsätzlich erforderlich, dass die Ausländerbehörde dem Betroffenen die Meldepflicht und die einschneidenden Folgen ihrer Verletzung durch einen Hinweis in einer ihm verständlichen Sprache deutlich vor Augen führt (BGH, Beschl. v. 26.01.2017 - V ZB 120/16 -, juris m.w.N.).

Dass der Beschwerdeführer über die Residenzpflicht in Zusammenhang mit der nach § 50 Abs. 4 AufenthG erforderlichen Anzeige eines Aufenthaltswechsels sowie den mit einem Unterlassen dieser Pflichten einhergehenden Folgen, insbesondere die Möglichkeit der Sicherungshaft, hinreichend belehrt worden ist, vermag das Gericht nicht festzustellen. [...]

Auch die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18.12.2018 enthaltene und über die Möglichkeit einer Inhaftnahme unterrichtende Belehrung nach § 50 Abs. 4 AufenthG stellt keinen ausreichenden Hinweis dar. Denn auch dann, wenn sie in einer für den Beschwerdeführer verständlichen Sprache formuliert gewesen sein sollte - was das Gericht der vorgelegten Akte nicht entnehmen kann -, so kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie zur Kenntnis des Beschwerdeführers gelangt ist. Denn dieser hat den Bescheid nebst Belehrung ausweislich des sich in der Akte befindenden Empfangsbekenntnisses nicht abgeholt. Für eine ordnungsgemäße Belehrung über die Möglichkeit einer Abschiebehaft im Fall eines Verstoßes gegen die in § 50 Abs. 4 AufenthG verankerten Mitteilungspflichten ist jedoch in Anbetracht der mit einer Freiheitsentziehung verbundenen erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigung zumindest vorauszusetzen, dass der Betreffende von der Belehrung tatsächlich in einer ihm verständlichen Sprache Kenntnis erlangt hat. Dahingehende Anhaltspunkte finden sich nicht. Die fehlende Kenntniserlangung kann auch nicht im Wege der Zustellfiktion des § 10 Abs. 4 S. 4 AsylG überwunden werden. [...]

Das Vorliegen der für die Anordnung der Sicherungshaft nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO erforderlichen (erheblichen) Fluchtgefahr ist auch nicht nach § 62 Abs. 3a Nr. 5 AufenthG zu vermuten. Danach wird die Fluchtgefahr widerleglich vermutet, wenn der Ausländer sich bereits in der Vergangenheit der Abschiebung entzogen hat. Erforderlich ist danach ein gezieltes Verhindern der Abschiebung, etwa durch aktiven Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte oder das Verstecken von Ausweispapieren; die Leistung passiven Widerstandes ist dagegen nicht ausreichend (vgl. zur Vorgängervorschrift: Keßler in: Hofmann, Kommentar zum Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 62 Rn. 30).

Dass sich der Beschwerdeführer in der Vergangenheit in diesem Sinne gezielt der Abschiebung entzogen hat ist nicht zu erkennen. Insbesondere kann dies nicht allein deshalb angenommen werden, weil sich der Beschwerdeführer nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft, vielmehr unerlaubt außerhalb des Bezirks der zuständigen Ausländerbehörde aufgehalten hat. Zum einen ist darin bereits kein aktives Verhinderungsverhalten zu erkennen. Darüber hinaus ist ein Verstoß gegen die in § 50 Abs. 4 AufenthG enthaltene Verpflichtung zur Mitteilung eines Wohnungswechsels oder Verlassens des Bezirks der Ausländerbehörde nicht vom Anwendungsbereich des § 62 Abs. 3a Nr. 5 AufenthG umfasst. Dies ergibt sich bereits daraus, dass dieses Verhalten geeignet ist, eine Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG zu begründen und damit in den Anwendungsbereich dieser Norm fällt. [...]