VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 03.05.2019 - 1 K 1382/18.KS.A - asyl.net: M27702
https://www.asyl.net/rsdb/M27702
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Genitalverstümmelung in Äthiopien:

Die drohende Genitalverstümmelung kann bei einem minderjährigen Mädchen aus Äthiopien je nach den Umständen des Einzelfalls die Flüchtlingsanerkennung begründen (hier für die Tochter eines Ehepaars aus einem ländlichen Gebiet Oromias).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, Genitalverstümmelung, Oromo, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

aa) Die Genitalverstümmelung stellt eine geschlechtsspezifische Verfolgung i.S. des § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG dar (VG Kassel, Urteil vom 28. Juni 2018 - 1 K 295/18.KS.A; VG Augsburg, Urteil vom 13. März 2019 - Au 7 K 17.35717, juris Rn. 34). Eine konkret drohende Genitalverstümmelung eines minderjährigen Mädchens ist in Oromia derzeit im Einzelfall noch geeignet, Flüchtlingsschutz zu begründen (VG Kassel, Urteil vom 18. Februar 2019 - 1 K 1053/17.KS.A).

Das Gericht weist allerdings auch darauf hin, dass sich die Situation in Äthiopien diesbezüglich stetig bessert und die Zahl der Genitalverstümmelungen signifikant zurückgeht (so etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 8. April 2019 [Stand: Februar 2019], S. 15f.). Insbesondere finden Kampagnen zur Abschaffung der Genitalverstümmelung statt und sollen derart schädliche traditionell oder kulturell bedingte Praktiken bis spätestens zum Jahre 2025 endgültig abgeschafft sein. Aktuell ist die Genitalverstümmelung allerdings in einigen Regionen noch sehr weit verbreitet, und zwar insbesondere in der gesamten Region Oromia (AA, a.a.O.).

Der Klägerin droht im konkreten Fall die Genitalverstümmelung. Davon ist das Gericht nach dem klägerischen Vortrag sowie den eingereichten Attesten überzeugt. Die Mutter der Klägerin wurde im Alter von 8 Jahren beschnitten (S. 3 Prot. sowie, wenn auch mit Vorbehalten die Bescheinigung der Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe ... vom ... 2019, vorgelegt im Verfahren der Mutter, 1 K 5100/17.KS.A). Die Eltern der Klägerin wünschen zwar nicht, dass ihre Tochter beschnitten wird, sehen sich aber nicht dazu in der Lage, im Fall der Rückkehr in ihre Heimat die Tochter davor zu beschützen. Dies geht aus der schriftlichen Stellungnahme (Bl. 40f. d. A.) hervor, die in sich schlüssig ist. Insbesondere der Vater berichtet hierin auch, dass seine Schwester bereits gegen deren Willen beschnitten wurde.

bb) Jedenfalls im Augenblick gilt noch für Oromia, dass der Staat hier nicht in der Lage ist, Täter konsequent zu bestrafen bzw. durch das Fehlen entsprechender Organe die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen nicht effektiv kontrolliert wird (so auch VG Kassel, Urteil vom 18. Februar 2019 - 1 K 1053/17.KS.A).

cc) Die Klägerin kann nach Würdigung der Umstände des Einzelfalls auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative gem. § 3e Abs. 1 AsylG in anderen Regionen Äthiopiens verwiesen werden. Die Mutter der Klägerin hat die Schule bis zur 8. Klasse besucht und ist dann zwangsverheiratet worden (S. 3 Prot.). Der Vater der Klägerin hat die Schule bis zur 9. Klasse besucht und war anschließend Autofahrer (S. 3 Prot.). Beide sprechen nur Oromo. Zudem kommen sie aus einer ländlichen Gegend, in denen die Beschneidung als Tradition angesehen wird (S. 4 Prot.). Eine Perspektive für eine zumutbare Niederlassung an einem anderen Ort in Äthiopien besteht nicht. Im Falle ihrer Rückkehr wären sie auf den Familienverband angewiesen. Das Gericht weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass die Flüchtlingsanerkennung hier auf der Einzelfallbetrachtung beruht und hieraus keine generelle Annahme abzuleiten ist, dass minderjährigen Mädchen in Äthiopien stets Genitalverstümmelung droht und sie als Flüchtling anzuerkennen sind (verneinend etwa VG Kassel, Urteil vom 22. Februar 2018 - 1 K 3256/17.KS.A und Urteil vom 28. Januar2019 - 1 K 6783/17.KS.A). [...]