VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 04.04.2019 - A 5 K 9505/17 - asyl.net: M27713
https://www.asyl.net/rsdb/M27713
Leitsatz:

Unwirksame Zustellung in der Gemeinschaftsunterkunft:

1. Die "Wohnung" im Sinne der Zustellungsvorschriften ist in einer Gemeinschaftsunterkunft das Zimmer bzw. die individuelle Wohneinheit, nicht die Gemeinschaftsunterkunft als ganzes. Die Zustellung durch Einwerfen in den allgemeinen Briefkasten der Gemeinschaftsunterkunft ist daher unwirksam.

2. Das Bundesamt hat sicherzustellen, dass Asylsuchende vor der Entscheidung über den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ablehnung des Asylantrags nicht abgeschoben werden und die Ausreisefrist erst nach negativer Entscheidung über diesen Antrag zu laufen beginnt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zustellung, Wohnung, Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung, wirksame Zustellung, Ausreisefrist, offensichtlich unbegründet, Suspensiveffekt, Gnandi, Rückkehrentscheidung, Bekanntgabe,
Normen: VwZG § 8, ZPO § 180, AsylG § 30, AsylG § 36, VwGO § 80 Abs. 5, RL 2013/32/EU Art. 46,
Auszüge:

[...]

Wohnt der Adressat in einer Gemeinschaftsunterkunft, ist nicht die Gemeinschaftsunterkunft selbst seine Wohnung im Sinne der Vorschriften über die Ersatzzustellung, sondern das von ihm bewohnte Zimmer (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.02.1999 - A 9 S 8/99 -, NVwZ-RR 1999, 42). Eine nach § 180 ZPO bewirkte Ersatzzustellung in den Briefkasten der Gemeinschaftsunterkunft ist daher unwirksam (vgl. VG Lüneburg, Urteil vom 29.05.2017 - 3 A 118/16 -; VG Halle, Beschluss vom 20.10.2017 - 5 B 841/17 -, juris).

Demnach ist die am 03.07.2017 bewirkte Ersatzzustellung durch Einwurf des Bescheides der Beklagten vom 29.06.2017 in den Briefkasten der Gemeinschaftsunterkunft des Klägers unwirksam. Soweit auf der Postzustellungsurkunde vermerkt war, dass der Bescheid in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt wurde, ist diese offenkundig fehlerhaft. Denn der Kläger schilderte in der mündlichen Verhandlung glaubhaft, dass das von ihm mit vier anderen Personen in der Gemeinschaftsunterkunft bewohnte Zimmer über keinen eigenen Briefkasten verfügte und ihm die eingehende Post durch den Hausmeister der Einrichtung übergeben wurde bzw. dieser die Post unter dem Türschlitz des Zimmers durchgeschoben hat. Die unwirksame Ersatzzustellung belegte der Prozessbevollmächtigte des Klägers bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes durch Vorlage einer Lichtbildaufnahme vom Briefkasten der Gemeinschaftsunterkunft (Bl. 41 der Gerichtsakte). [...]

bbb) Die gesetzte Ausreisefrist ist rechtswidrig, weil mit ihr das genannte Erfordernis, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung während der Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn ausgesetzt werden, nicht erfüllt wird. Denn nach dem eindeutigen Wortlaut in Ziff. 5 des angegriffenen Bescheids beginnt die einwöchige Frist zur freiwilligen Ausreise "nach Bekanntgabe dieser Entscheidung" während sich aus den oben dargestellten unionsrechtlichen Anforderungen ergibt, dass die Frist erst mit Wirksamkeit einer negativen gerichtlichen Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO oder aber - wenn kein Eilrechtsschutzantrag gestellt wird - nach Ablauf der Wochenfrist aus § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG zu laufen beginnen darf. Die vom Bundesamt ausgesprochene Verpflichtung des Klägers zur Ausreise innerhalb von einer Woche "nach Bekanntgabe" des Bescheides ist damit unionsrechtswidrig, da der Lauf der Ausreisefrist zugleich mit der Rechtsbehelfsfrist von einer Woche (ebenfalls ab Bekanntgabe des Bescheides, vgl. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) zu laufen beginnt und damit nach Ablauf der Ausreisefrist und nach Ablehnung des Eilantrags ohne eine erneute Fristsetzung oder eines erneuten Fristbeginns die Abschiebung erfolgen könnte.

Es lässt sich auch weder aus einer entsprechenden Anwendung des § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG noch aus einer Analogie zu § 59 Abs. 1 Satz 6 AufenthG eine unionsrechtskonforme Ausreisefristsetzung herleiten (so aber VG Stuttgart, Beschluss vorn 11.12.2018 - A 2 K 10728/18 -, juris Rn. 5; VG Berlin, Beschluss vom 30.11.2018 - 31 L 682.18 A -, juris Rn. 23; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Stand: März 2019, § 36 AsylG Rn. 15.2). Denn es fehlt für die analoge Anwendung der Norm an der dafür erforderlichen planwidrigen Regelungslücke.

Die Vorschrift des § 36 Abs. 1 AsylG ermöglicht es nach ihrem Wortlaut dem Bundesamt ohne weiteres, eine europarechtskonforme Ausreisefrist, die im Falle der Einlegung des Eilrechtsschutzantrages nach § 36 Abs. 3 AsylG erst mit (negativem) Abschluss dieses Verfahrens beginnen würde, anzuordnen. Denn die gesetzliche Vorgabe lautet insoweit allein, dass die zu setzende Ausreisefrist eine Woche zu betragen hat. Aussagen zum Beginn der Ausreisefrist trifft die Norm nicht. Auch wenn es bislang der einhelligen Auffassung in Lehre und Rechtsprechung entspricht, dass die Frist mit der Bekanntgabe des Bescheids zu laufen beginnt (siehe nur: Pietzsch, in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand: 01.08.2018, § 36 AsylG Rn. 4), ist der Wortlaut für eine unionsrechtskonforme Auslegung offen. Er verlangt gerade nicht, dass diese Frist zwingend mit der Bekanntgabe der Rückkehrentscheidung zu laufen beginnen muss. Lässt es aber die bestehende Gesetzeslage zu, dass die Verwaltung das Recht in unionsrechtskonformer Weise zur Anwendung bringt, ist kein Raum für eine Rechtsanalogie, um eine dem Wortlaut nach eindeutig rechtswidrige Anwendung des § 36 Abs. 1 AsylG zu korrigieren.

ccc) Schließlich führt die Formulierung in Ziff. 5 des angegriffenen Bescheids zu einem Verstoß gegen die vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Informationspflichten. Wie bereits ausgeführt, muss sichergestellt sein, dass dann, wenn die Rückkehrentscheidung zusammen mit der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde in einer einzigen behördlichen Entscheidung ergeht, die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in transparenter Weise über die unter 111. 2. a) genannten Garantien informiert wird (EuGH, Urteil vom 19.06.2018 - C-181/16 - <Gnandi>, NVwZ 2018, 1625 Rn. 65).

Die Informationspflichten dienen dazu, sicherzustellen, dass der Betroffene in Fällen, in denen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz und das Ergehen der Rückehrentscheidung zusammenfallen, von den Rechten, die die verfahrensrechtlichen Komponenten des Grundsatzes der Nichtzurückweisung absichern, effektiv Gebrauch machen kann. Daher kann in Abwägung der verschiedenen Ziele der Rückführungsrichtlinie und der Informationspflichten ein Verstoß jedenfalls dann zur Rechtswidrigkeit der Rückkehrentscheidung führen, wenn die tatsächliche Möglichkeit besteht, dass durch das Unterlassen einer Information oder durch eine inhaltlich fehlerhafte Information eine Gefährdung der verfahrensrechtlichen Ausprägung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung aufgetreten ist oder auftreten wird (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.12.2018 - A 11 S 1923/17 -, juris Rn. 265).

Ein derartiger Fall liegt vor, wenn - wie hier - unzutreffend zu Lasten des Asylantragstellers über die Ausreisefrist belehrt wird. Denn mit der in Ziff. 5 enthaltenen Information, dass der Kläger eine Woche ab Bekanntgabe der Entscheidung Zeit habe, freiwillig auszureisen, wird nicht nur eine zutreffende Information unterlassen, sondern vielmehr ausdrücklich eine Falschinformation übermittelt. Der Adressat dieser Regelung und Information kann diese nur so verstehen, dass die Ausreisefrist ab Bekanntgabe zu laufen beginnt, unabhängig davon, ob er einen Eilrechtsschutzantrag stellt oder nicht. Dies stellt eine Verletzung der Pflicht dar, darüber zu informieren, dass nach unionsrechtlichen Maßgaben ein eingelegter Rechtsbehelf stets dazu führen muss, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens - im Falle der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet bis zum Abschluss des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO - ausgesetzt sein müssen. Die fehlerhaft mitgeteilte Ausreisefrist beinhaltet die tatsächliche Möglichkeit, dass sich ein Adressat an sie hält mit der Folge, dass er seines Rechts auf Verbleib aus Art. 46 Abs. 8 RL 2013/32/EU verlustig gehen könnte.

ddd) Die rechtswidrige Festsetzung des Beginns der Ausreisefrist in Ziff. 5 des angegriffenen Bescheids führt hier auch zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung, da die insoweit fehlerhafte Information in einem Rechtmäßigkeitszusammenhang mit derselben steht.

Auch wenn die mit der Abschiebungsandrohung verbundene Ausreisefrist selbständiger Gegenstand einer Anfechtungsklage sein kann, da sie weder nach dem Wortlaut des § 59 Abs. 1 AufenthG noch nach dem Regelungszusammenhang untrennbar mit der Androhung der Abschiebung verbunden sein muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 03. 04.2001 - 9 C 22.00 -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.02.2009 - 18 A 2620/08 -, juris Rn. 39 ff.), führen die festgestellten Verstöße gegen unionsrechtliche Vorgaben dazu, dass nicht nur die Ausreisefristsetzung, sondern auch die Abschiebungsandrohung selbst durch die fehlerhafte Information rechtswidrig wird. Denn sowohl die zutreffende Fristsetzung als auch die Beachtung der Informationspflichten sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache "Gnandi" rechtliche Voraussetzung dafür, dass die Rückkehrentscheidung - hier also die Abschiebungsandrohung - mit der Ablehnung des Asylantrags verbunden werden darf, Durch die inhaltlich fehlerhafte Information tritt eine Gefährdung der verfahrensrechtlichen Ausprägung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung auf (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.12.2018  - A 11 S 1923/17 -, juris Rn. 265). Insoweit ist zu betonen, dass es nicht darauf ankommen kann, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung tatsächlich verletzt ist, ob der Kläger sich mithin an das tenorierte Gebot der Ausreise binnen einer Woche ab Bekanntgabe der Rückkehrentscheidung gehalten hat oder nicht. Insoweit muss bereits eine abstrakte Gefährdung ausreichen. Eine andere Auffassung führte zu dem nicht tragbaren Ergebnis, dass der rechtstreue Adressat benachteiligt wäre. [...]