VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 15.02.2019 - A 6 K 7740/17 - asyl.net: M27714
https://www.asyl.net/rsdb/M27714
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen exilpolitischer Aktivitäten für die Unabhängigkeit "Uiguristans":

Die Menschenrechtssituation in der Provinz Xinjiang hat sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Rückkehrenden (vermeintlichen) politisch aktiven Personen drohen Inhaftierung und Folter.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: China, Uiguren, politische Verfolgung, Xinjiang,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Nach der aktuellen Auskunftslage ist davon auszugehen, dass Aktivitäten der uigurischen Exil-Organisationen unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden - einschließlich der Auslandsvertretungen - stehen; dies gilt insbesondere für den Weltverband der Uiguren, die Osttürkistanische Union in Europa e.V., den Osttürkistanischen (uigurischen) Nationalkongress e.V. und das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der inneren Mongolei und Osttürkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Osttürkistan-Bewegung zählen zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung werden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt (so der Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 23 f.). Die chinesische Führung hat in mehreren Verlautbarungen darauf hingewiesen, dass es nach ihrer Überzeugung direkte Verbindungen zwischen uigurischen Separatisten und den afghanischen Taliban und Al-Qaida gebe und dass ein energisches Vorgehen gegen den uigurischen Separatismus, Extremismus und Terrorismus Teil des internationalen Kampfes gegen den Terror seien. Kenntnisse über solche Verbindungen einzelner Splittergruppen (East Turkestan Islamic Movement, ETIM) liegen auch deutschen Behörden vor. Von chinesischer Seite werden die Erkenntnisse jedoch zu einem Generalverdacht gegenüber allen uigurischen Organisationen erhoben und missbraucht. Dabei gibt es insbesondere für aus politischen Gründen Verfolgte keine sichere Ausweichmöglichkeit innerhalb Chinas (Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 15 f. und 24).

Mitglieder uigurischer Exil-Organisationen haben vor diesem Hintergrund bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Berichtet wird über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen asiatischen Ländern mit anschließender Folter oder Verurteilung (Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 24). Das chinesische Strafgesetz hat die früher festgeschriebenen "konterrevolutionären Straftaten" abgeschafft und im Wesentlichen durch Tatbestände der "Straftaten, die die Sicherheit des Staates gefährden" (Art. 102-114 des chinesischen Strafgesetzbuchs) ersetzt. Danach können vor allem Personen bestraft werden, die einen politischen Umsturz/Separatismus anstreben oder das Ansehen der Volksrepublik China beeinträchtigen. Gerade dieser Teil des Strafgesetzes fällt durch eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe und hohe Strafen auf (so der Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 19).

Die Intensität von Repressionen bei der Rückkehr von vermeintlichen Separatisten nach China wird unter anderem durch öffentliche Äußerungen der politischen Führung Chinas und aus bilateralen und multilateralen politischen Dokumenten offenkundig. Die chinesische Regierung verweigert - auch in Fällen unstrittiger ausländischer Staatsbürgerschaft - eine konsularische Betreuung. Ebenso werden in der Regel und mit der Begründung, es handele sich um "innere Angelegenheiten Chinas", keine oder nur unzureichende Details zur Identität und zum Verbleib dieser Personen mitgeteilt. Seit 2011 werden unter chinesischem Druck Uiguren u.a. aus Ägypten, Kasachstan, Malaysia, Pakistan und Thailand immer wieder nach China ausgeliefert oder ausgewiesen, so auch in größerer Zahl im Juli 2015. Bei dieser Repatriierung sollen sogar Schüsse gefallen sein; Einzelheiten sind unbekannt. Über ihren Verbleib ist ebenfalls nichts bekannt (so der Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die  asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 16).

Unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Separatismus, Extremismus und Terrorismus geht die chinesische Zentralregierung nach der aktuellen Auskunftslage aber nicht nur mit aller Härte gegen Rückkehrer vor, welche von ihr mit uigurischen Exil-Organisationen in Zusammenhang gebracht werden. Auch in der Autonomen Region Xinjiang operiert die chinesische Zentralregierung mit verstärkten Sicherheitsmaßnahmen zur Bekämpfung der "Gefährdungs-Triade" (religiöser) Extremismus, (ethnischer) Separatismus und (internationaler) Terrorismus. Angesichts von Kontakten zwischen uigurischen Unabhängigkeitsgruppen und fundamentalistischen Gruppierungen in den Anrainerstaaten geht die Zentralregierung gegen jegliche (auch vermeintliche) Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen aus Furcht vor Separatismus und Infiltrierung wie Ideologisierung durch ETIM und radikale ausländische Kräfte (IS, AQ, IMU, etc.) mit großer Härte vor. Hierzu gehören Passentzug, Ausgangssperren, Einführung von neuen, als Extremismus eingestuften Tatbeständen, Vorlage von biometrischen Daten - wie beispielsweise DNS-Proben - um die Erlaubnis für Auslandsreisen zu erhalten. Die Sicherheitsbehörden kontrollieren dabei Nachrichten aus der Unruheprovinz effektiv. Einwohner, die dennoch Informationen nach außen, insbesondere an westliche Medien, geben, werden systematisch unter Druck gesetzt und hart bestraft. Dabei wird auch vor einer Sanktionierung der Familien von Informanten nicht haltgemacht. Im Jahr 2015 hatte sich dementsprechend die Zahl der Verurteilungen wegen Terrorismus und Separatismus nach chinesischen Angaben auf über 1.400 verdoppelt (so der Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 14).

Mit dem neuen Parteisekretär Xinjiangs, Chen Quanguo, hat die Repression nochmals ein neues Niveau erreicht, das sich mittlerweile kaum noch von der Situation in Tibet unterscheidet: So existiert mittlerweile ein engmaschiges Netz kleiner Polizeistationen ("convenience police stations"), die jeweils nur wenige hundert Meter voneinander entfernt sind. Hierfür sollen 2016 und 2017 rund 63.000 Polizisten rekrutiert worden sein - d.h. mehr als 2008 bis 2012 insgesamt. Die Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen in Xinjiang haben dabei besonders gegenüber der muslimischen Bevölkerung im Jahr 2016 massiv zugenommen (so der Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 15).

Die Verschlechterung der Menschenrechtslage in Xinjiang wird durch zahlreiche Berichte von Medien und Menschenrechtsorganisationen wie auch mittlerweile durch wissenschaftliche Studien belegt. Die Schätzungen zur Zahl der Betroffenen gehen zwar auseinander, aber selbst konservative Schätzungen von Experten und Wissenschaftlern gehen derzeit davon aus, dass zwischen April 2017 und Juni 2018 insgesamt etwa 700.000 bis zu eine Million Uiguren und Angehörige anderer muslimischer Minderheiten in Xinjiang ohne rechtliche Grundlage, Zugang zu einem Anwalt oder gerichtliche Anhörung über unterschiedlich lange Zeiträume - von mehreren Wochen über Monate bis hin zu unbestimmten Haftzeiten - in sogenannten Umerziehungslagern festgehalten wurden bzw. werden. Dies entspricht insgesamt etwa zehn bis elf Prozent der uigurischen Bevölkerung in Xinjiang. Aus einigen Regionen in Xinjiang wird zudem über "Umerziehungs"-Quoten berichtet, die von den lokalen Behörden erfüllt werden müssen (so der Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 15 f.).

Die Insassen von Umerziehungslagern werden gehirnwäscheartigen "Umerziehungsmaßnahmen" verbunden mit erzwungener Selbstkritik, Leugnen des eigenen Glaubens, der eigenen Volksgruppe sowie regelmäßigen, teilweise stundenlangen Verhören unterzogen. Augenzeugenberichte gibt es jedoch nur wenige, da auch das Berichten von diesen Lagern streng sanktioniert ist und von den Betroffenen deshalb befürchtet wird, erneut inhaftiert zu werden oder ihre Familien zu gefährden. Menschenrechtsorganisationen und Medien berichten von Misshandlungen und Folter in diesen Lagern. Es gibt auch vereinzelt Berichte von Todesfällen (so der Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 17).

Besonders im Fokus der Umerziehungsmaßnahmen stehen Uiguren und Angehörige anderer muslimischer Minderheiten, die Kontakte zum Ausland pflegen. Im Oktober 2016 wurden zur Verstärkung der Überwachung von Auslandskontakten in einem ersten Schritt die Pässe der Einwohner Xinjiangs zurückgerufen. Die Behörden der Autonomen Region Xinjiang haben zudem seit Beginn des Jahres 2017 alle chinesischen Uiguren im Ausland aufgefordert, bis Ende Mai 2017 in die Volksrepublik China zurückzukehren, um sich registrieren zu lassen. Verstöße dagegen können nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen von den chinesischen Behörden sanktioniert werden. Doch auch die freiwillige Rückkehr in der vorgegebenen Frist war in der Vergangenheit keine Garantie für Straffreiheit und Sicherheit. So gibt es Medienberichte über zwei uigurische Studenten, die nach der freiwilligen Rückkehr von Ägypten nach China in chinesischem Polizeigewahrsam zu Tode gekommen sein sollen (so der Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 17).

Schließlich haben sich in den letzten Monaten Berichte von Druck chinesischer Polizeibehörden auf Uiguren, die im Ausland leben, gehäuft. Vor diesem Hintergrund können chinesische Uiguren im Ausland, die dort zudem einen Asylantrag stellen und politische Verfolgung in China geltend machen, besonders in den Fokus der chinesischen Sicherheitsbehörden rücken. Ein Asylantrag allein ist nach chinesischem Recht zwar kein Straftatbestand. Personen, die China illegal, d.h. unter Verletzung der Grenzübertritts-Bestimmungen verlassen haben, können jedoch bestraft werden. Im Fall der uigurischen Minderheit kommt noch der Generalverdacht des Separatismus und/oder Extremismus hinzu. Uiguren, die dem von den chinesischen Behörden erfolgten Rückruf zur Registrierung nicht gefolgt sind oder folgen konnten, können schon deswegen grundsätzlich sanktioniert werden (so der Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China vom 28.06.2018, S. 17 f.). [...]