VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 10.10.2019 - 6 A 4392/17 - asyl.net: M27721
https://www.asyl.net/rsdb/M27721
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für vorverfolgte Person aus dem Irak vom Stamm der Dulaimi:

Angehörigen des Stammes Dulaimi droht im Irak politische Verfolgung aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit.

(Leitsätze der Redaktion, anders jedoch VG Saarland, Urteil vom 14.12.2017 - 6 K 1538/16 - asyl.net: M25823 )

Schlagwörter: Al Dulaimi, Al-Dulaim, Al-Dulaym, Dulaimi, Irak, soziale Gruppe, Sunniten, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

31 Nach Einschätzung des Gerichts bilden die Angehörigen des Stammes Al-Dulaimi (Synonyme: al-Dulaym, al-Dulaim), zu dem auch der Kläger gehört, im Irak eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylGG, weil dieser Personenverbund mit einer deutlich abgrenzbaren, eigenen Gruppenidentität wahrgenommen wird, welche für die Stammesangehörigen einen besonderen Stellenwert genießt und identifikationsstiftend wirkt. [...]

34 Im gegenwärtigen Irak haben Teile des Stammes Al-Dulaimi, etwa die Albu Nimr, den IS unter Hinnahme massiver Verluste entschieden militärisch bekämpft (The Guardian, Artikel vom 30. Oktober 2014, "Isis kills hundreds of Iraqi Sunnis from Albu Nimr tribe in Anbar province"; Time, Artikel vom 4. November 2014, "Iraq Confirms ISIS Massacre of Sunni Tribe"; The Independent, Artikel vom 4. Juli 2018, "For this Iraqi tribe massacred by Isis, fear of the group's return is a constant reality"). Umgekehrt haben sich auch zahlreiche Mitglieder des Stammes Al-Dulaimi mit dem Kampf des IS gegen die irakische Zentralregierung solidarisiert, Berichten zufolge weniger aus Gründen religiöser Überzeugung, sondern mehr vor dem Hintergrund der langjährigen politischen Marginalisierung der sunnitischen Bevölkerungsminderheit (The Arab Weekly, Artikel vom 9. Oktober 2015, "Sunni tribes in Iraq and Syria split over ISIS"; The Wall Street Journal, Artikel vom 16. Juni 2014, "Unlikely Allies Aid Militants in Iraq"). So distanzierte sich beispielsweise im Juni 2014 der zur damaligen Zeit von der irakischen Zentralregierung gesuchte, in Erbil im Exil lebende Anführer des Stammes, Sheikh Ali Hatem al-Suleiman al-Dulaimi, in einem Zeitungsinterview von den sektiererischen Massenmorden des IS, wies jedoch zugleich Forderungen zurück, die militärische Unterstützung der Terrororganisation durch seinen Stamm zu unterbinden. Zugleich drohte er damit, mit "hunderttausenden Männern" gen Bagdad zu marschieren, sollte der (schiitische) irakische Premierminister Nouri al-Maliki nicht zurücktreten (The Telegraph, Artikel vom 29. Juni 2014, "We will stand by Isis until Maliki steps down, says leader of Iraq's biggest tribe").

35 Diese Erkenntnismittellage zur Wahrnehmung des Stammes Al-Dulaimi in der irakischen Gesellschaft findet ihre sachliche Entsprechung in der Verfolgung, welche dem Kläger in Bagdad im Frühjahr 2015 durch Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte widerfuhr.

36 In diesem Zusammenhang berücksichtigt das Gericht den durch Erkenntnisquellen gestützten Befund, dass sich im Irak die vom Bundesamt vertretene "trennscharfe" Differenzierung zwischen in reiner Bereicherungsabsicht vorgenommenen Straftaten einerseits und konfessionell oder politisch motivierten Verfolgungshandlungen andererseits nur schwer vornehmen lässt. Zwischen Vereinigungen, die Menschen bestimmter Konfessionen oder Ethnien oder Angehörige bestimmter Berufsgruppen (z.B. Journalisten, Richter, Wissenschaftler und Ärzte) aus ideologischen oder "staatspolitischen" Gründen entführen oder bedrohen, und solchen, die rein kriminelle Zwecke verfolgen, besteht lediglich ein schmaler Grat. Gerade in Bagdad gehen viele Entführungen auf das Konto krimineller Gruppen bzw. im Sinne von "Warlords" agierender Milizen zurück, die oft über Stammesverbindungen eng mit der Politik verwoben sind und wichtige offizielle Positionen im irakischen Sicherheitsapparat (z.B. der Polizei) bekleiden, also in der Lage sind, kriminelles und ideologisches Handeln zu kombinieren (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 9.4.2019, S. 26, 31, 43; Bundesasylamt (BAA), Analyse der Staatendokumentation. Irak: die Sicherheitslage in Bagdad, 26. Januar 2011, S. 14; VG Hannover, Urteil vom 04.12.2018 – 6 A 7446/16, n.v., S. 12). Wie eingangs dargestellt, liegt eine erkennbare objektive Zielrichtung der Verfolgungsmaßnahme – und damit ein Kausalzusammenhang zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG – dabei bereits dann vor, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt, mögen auch sonstige (monetäre) Ziele in die Entscheidung der Verfolger eingeflossen sein. So liegt es im vorliegenden Fall. [...]