VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 09.10.2019 - 9 K 11634/17.TR - asyl.net: M27724
https://www.asyl.net/rsdb/M27724
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen alleinstehenden Mann aus Afghanistan wegen Sozialisierung in Deutschland: 

Ein junger Mann aus Afghanistan, der sein Herkunftsland bereits im Alter von 13 oder 15 Jahren verlassen hat und somit wichtige formative Jahre seines Entwicklungsprozesses in Deutschland verbracht hat, wird sich in die traditionelle und patriarchalische Gesellschaft in Afghanistan nicht mehr einleben können. Denn die kulturellen Normen und Umstände einer liberalen Gesellschaft, die maßgebend auf die Vorbereitung eines eigenverantwortlichen Lebens als "Erwachsener" dienen, haben bereits wesentlich auf ihn eingewirkt. Er wird somit - auf sich allein gestellt - weder Arbeit noch Obdach finden können und somit einer akut lebensgefährlichen Situation ausgesetzt sein.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Existenzminimum, westlicher Lebensstil,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat aber einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG. [...]

Nach Maßgabe dieser individuellen Prüfung ist das Gericht davon überzeugt, dass es dem Kläger nicht möglich wäre, im Falle einer Rückkehr auch nur ein minimales Einkommen zu erzielen und seinen Lebensunterhalt sichern zu können. Das Gericht geht vielmehr davon aus, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr alleine nicht in der Lage wäre Arbeit oder Obdach zu finden und nicht nur prekären, sondern akut lebensgefährlichen Lebensbedingungen ausgesetzt wäre.

Das Gericht stützt diesen Schluss auf die folgenden Überlegungen:

Zunächst ist die persönliche Reife des Klägers als gering einzustufen. [...] Der Kläger wäre hiernach zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ca. 19 Jahre alt. [...] Unabhängig von seinem faktischen Alter präsentierte sich der Kläger nämlich im Rahmen der mündlichen Verhandlung als überdurchschnittlich zaghafter und stiller Mensch, dessen Durchsetzungsvermögen und Belastbarkeit zur Überzeugung des Gerichts am unteren Ende des Spektrums angesiedelt sind. Er wirkte scheu und verängstigt, verwies mehrmals "hilfesuchend" auf seine anwesende Begleiterin. Das für ihn ungünstige, weil asylrechtlich nicht relevante "Nicht-Verfolgungsschicksal" schilderte er bereitwillig und wahrheitsgetreu, ohne auf Nachfragen auch nur geringfügig zu seinen Gunsten zu übertreiben. Insgesamt hält das Gericht den subjektiven Reifeprozess des Klägers im Rahmen seiner Bewertung nach alldem für so retardiert, dass er allenfalls auf dem Papier als "erwachsen" (bzw. als "Heranwachsender" im Sinne des deutschen Rechts) bezeichnet werden kann.

Dies wird zusätzlich gestützt und erklärt durch den Vortrag des Klägers zu seiner Erziehung, konkret durch den Umstand, dass seine Eltern bereits früh verstarben, sich zunächst sein älterer Bruder um ihn kümmerte, der indes ebenfalls bald verstarb, und er sodann bei seinem Onkel leben musste, der ihn während der gesamten Zeit "drangsalierte und ausnutzte". Das Gericht geht infolge dieser Ereignisse davon aus, dass dem Kläger wesentliche Erziehungsmerkmale vorenthalten wurden und er in dem von ihm nachvollziehbar und glaubhaft geschilderten Umfeld nicht in der Lage war, auch nur ein Mindestmaß an Durchsetzungsvermögen zu erwerben, welches ihn nun befähigen würde, sich ein Leben in Afghanistan aufzubauen.

Familie in Afghanistan hat der Kläger mittlerweile - seinen Onkel, zu dem eine Rückkehr nicht möglich ist und von dem Hilfe aus nachvollziehbaren Gründen nicht erwartet werde kann - keine mehr in Afghanistan. Damit fehlt dem Kläger jedwedes familiäre Netzwerk, welches ihn unterstützen und seinen Lebensunterhalt sichern könnte. In Afghanistan wäre es ihm allenfalls möglich, eine Tätigkeit als Tagelöhner zu finden, da er keinerlei abgeschlossene Berufsausbildung verfügt und auch durch fehlende Netzwerke besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt wäre, eine Arbeitsstelle zu finden. Einer solchen Arbeit als Tagelöhner wäre der Kläger zur Überzeugung des Gerichts indes aufgrund seiner individuellen Eigenschaften - insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen - nicht gewachsen. [...] Im Übrigen hat das Gericht keine Zweifel an der physischen Arbeitsfähigkeit des Klägers, sondern stützt seine Bedenken primär auf die fehlende Entwicklung und emotionale Reife, die zur Überzeugung des Gerichts dazu führen, dass der Kläger dem Leben alleine in Afghanistan nicht gewachsen wäre. Hierzu trägt im Übrigen auch bei, dass der Kläger sein Heimatland bereits im Jahr 2013, also in einem Alter von - je nachdem welches Geburtsdatum man zugrunde legt, hierzu oben - 13 oder 15 Jahren verließ. Damit hat er in jedem Fall wichtige, formative Jahre seines Entwicklungsprozesses in der Bundesrepublik Deutschland verbracht. Das Gericht geht insoweit davon aus, dass die kulturellen Normen und Umstände der Bundesrepublik Deutschland im Speziellen und einer liberalen Gesellschaft im Allgemeinen, welche der Vorbereitung eines eigenverantwortlichen Lebens als "Erwachsener" dienen, maßgebend auf den Kläger eingewirkt haben. Auch deshalb ist nicht zu erwarten, dass der Kläger in der Lage wäre sich (zumal völlig auf sich allein gestellt) nunmehr in die traditionelle und patriarchalische Gesellschaft in Afghanistan einleben zu können. [...]

Der Kläger hat nach alledem Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S.1 AufenthG. [...]