VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, vom 11.07.2019 - 1 B 53/19 - asyl.net: M27727
https://www.asyl.net/rsdb/M27727
Leitsatz:

Pflicht zur Nachholung des Visumsverfahrens für Positivstaater wegen Besuchsmöglichkeit während des Visumsverfahrens:

1. Zur Nachholung des Visumsverfahrens ist eine Trennungszeit von nicht mehr als 3-4 Monaten von einem Kleinkind hinnehmbar.

2. Positivstaatern ist jedoch auch ein länger dauerndes Visumsverfahren zur Familienzusammenführung zuzumuten, wenn wegen der Visumsfreiheit gegenseitige längere Besuche möglich sind.

3. Ob im konkreten Einzelfall visafreie Besuche tatsächlich möglich sind, ist anhand der individuellen Umstände zu prüfen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Visumsverfahren, Positivstaater, Kleinkind, Trennung, Schwangerschaft, Berufstätigkeit, Dauer, Verfahrensdauer, Zumutbarkeit, Familienzusammenführung, Ehegattennachzug,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

10 Die mit der Nachholung des Visumverfahrens verbundene (zeitlich beschränkte) Trennung des erst wenige Monate alten Kindes vom Antragsteller führt nicht zu einer Unzumutbarkeit im Sinne des § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG oder zu einer rechtlichen Unmöglichkeit einer Abschiebung.

11 Eine rechtliche Unmöglichkeit einer Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann sich aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, die aus Verfassungsrecht etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG oder aus Art. 8 Abs. 1 EMRK herzuleiten sind. Nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Belange können einer Beendigung des Aufenthalts dann entgegenstehen, wenn es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Bindungen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 – 1 C 9.95 –, BVerwGE 105, 35, 39 f.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 20. Mai 2009 – 11 ME 110/09 –, juris Rn. 10; jeweils m.w.N.). Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst das Recht auf ein familiäres Zusammenleben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12. Mai 1987 – 2 BvR 1226/83 u.a. –, BVerfGE 76, 1, 42). Er knüpft dabei nicht an bloße formalrechtliche familiäre Bindungen an. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2. Februar 2011 – 8 ME 305/10 –, InfAuslR 2011, 151 m.w.N.). Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie zunächst als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern. Von einer solchen familiären Lebensgemeinschaft ist vorliegend auszugehen. Der neben seiner Lebensgefährtin sorgeberechtigte Antragsteller kümmert sich seit der Geburt um das Kind, er lebt zusammen mit seiner Lebensgefährtin und dem Kind in einer familiären Lebensgemeinschaft. Insbesondere kümmert er sich auch um das Kind, wenn seine Lebensgefährtin berufsbedingt abwesend ist. [...]

14 Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist die durch die Nachholung des Visumverfahrens – oder auch einer Abschiebung des Antragstellers – eintretende Trennung von seinem Kind jedenfalls für eine gewisse kurze Zeit hinzunehmen; sie ist hier mit dem verfassungsrechtlich bzw. menschenrechtlich gebotenen Schutz von Ehe und insbesondere Familie im Sinne von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar.

15 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die schützenswerte Vater-Kind-Beziehung keine derartige zeitliche Unterbrechung erfahren darf, die zu einem vollständigen Verlust derselben führt. Gerade in dem hier gegebenen Kindesalter von nur wenigen Monaten ist der Aufbau einer sicheren Bindung angesichts der Entwicklung des Kindes von einem regelmäßigen persönlichen Kontakt des Kindes zu den Eltern abhängig. Der persönliche Kontakt zu der Mutter ist weiterhin ununterbrochen gewährleistet. Eine den Zeitraum von etwa 3 - 4 Monaten deutlich übersteigende Trennungszeit des Kindes von dem anderen Elternteil, hier dem Vater, dürfte im Sinne des Kindeswohls nicht mehr hinnehmbar sein. Wegen der bestehenden Bindungen des Kindes zur Mutter würden damit zwar nicht unbedingt seelische Schäden des Kindes drohen. Damit wäre jedoch die auch aus beruflichen Gründen bei anderen Paaren gelegentlich übliche Trennungszeit des anderen Elternteils überschritten und der andere Elternteil für einen wesentlichen Zeitraum von dem Kontakt zum Kind ausgeschlossen. Bei Kleinkindern von unter 3 Jahren, bei denen eine Trennungszeit von einem Elternteil von über 6 Monaten infrage steht und bei denen dadurch etwa ein halbes Jahr mehr als ein Sechstel des eigenen Lebens ausmachen würde, wäre mit der Nachholung des Visumsverfahrens zuzuwarten, bis das Kind dem Kleinkindalter entwachsen ist und ihm die Möglichkeit offensteht, den Kontakt zu der Bezugsperson anderweitig, etwa brieflich oder telefonisch, weiter aufrecht zu erhalten (vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 02. November 2012 – 3 B 199/12 –, Rn. 3, juris).

16 Es ist gegenwärtig nicht sichergestellt, dass der Antragsteller das Visumsverfahren insgesamt innerhalb eines Zeitraums von 3-4 Monaten nachholen könnte. In dem Merkblatt der Botschaft der Bundespolitik Deutschland in Skopje heißt es wie folgt: [...]

26 Das bedeutet, dass zu der Zeit für die Bearbeitung des Antrages von etwa 3 Monaten noch die erhebliche Zeit von etwa 4-6 Monaten hinzuzurechnen ist, bis überhaupt ein Antrag gestellt werden kann. Allerdings kann ein Termin für die Antragstellung auch online schon von Deutschland aus beantragt werden, dafür wird zwar eine Passnummer benötigt, der Antragsteller könnte dazu jedoch auch die Nummer des verloren gegangenen Passes angeben und sich auf dieser Seite anmelden: service2.diplo.de/rktermin/ extern/appointment_showForm.do?locationCode=skop& realmId=629&categoryId=1311

27 Ein längerer Trennungszeitraum von über 3 Monaten wäre jedoch vorliegend mit der Nachholung eines Visumsverfahrens nicht zwangsläufig verbunden. Der Antragsgegner hat zu Recht darauf verwiesen, dass der Antragsteller jederzeit für einen Zeitraum von bis zu 90 Tagen innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen visumfrei für einen beabsichtigten Kurzaufenthalt in die Bundesrepublik Deutschland einreisen könnte. Ein längerer Trennungszeitraum könnte so trotz Durchführung des Visumsverfahrens vermieden werden. Dies setzt allerdings voraus, dass der Antragsteller in Besitz eines biometrischen Reisepasses ist. Der Antragsteller ist in der Vergangenheit in Besitz eines solchen Reisepasses gewesen. Er behauptet nunmehr, den Reisepass verloren zu haben, ohne dass er in der Lage ist, die genauen Umstände dieses Verlusts nachvollziehbar zu beschreiben. Ein neuer Pass ist bei der Botschaft in Berlin beantragt, ob der Pass aktuell bereits ausgestellt worden ist, ist dem Gericht nicht bekannt; die für die Ausstellung eines solchen Reisepasses von dem Antragsteller zunächst genannten Zeiträume sind längst verstrichen, weitere Hinderungsgründe sind nicht bekannt. Es sind für das Gericht keine nachvollziehbaren Gründe dafür ersichtlich, dass dem Antragsteller – sollte er vor der Ausreise aus Deutschland keinen Pass erhalten – den Pass nicht auch in Nordmazedonien erhalten könnte, entweder durch Übersendung des Passes von der Botschaft in Berlin an die Behörden in Nordmazedonien oder durch Neuausstellung von den dortigen Behörden. Gründe für eine weitere Verzögerung bei der Ausstellung eines Reisepasses, die zuvor immer wieder genannt werden konnten, sind jedenfalls nicht ersichtlich. [...]