OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.10.2019 - 3 M 181.19 - asyl.net: M27767
https://www.asyl.net/rsdb/M27767
Leitsatz:

Die Setzung einer Ausschlussfrist zur Angabe einer ladungsfähigen Anschrift bei der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe im Klageverfahren auf Erteilung eines Visums (Nachzug des minderjährigen Sohnes einer als Flüchtling anerkannten Syrerin) wegen Fehlens einer ladungsfähigen Anschrift ist ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig, wenn zuvor auch die Beklagte die von der Mutter angegebene Anschrift in ihrem Bescheid verwendet hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Visumsverfahren, ladungsfähige Anschrift, Prozesskostenhilfe, Ausschlussfrist, Sachaufklärung, Sachaufklärungspflicht,
Normen: EMRK Art. 6 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, VwGO § 82 Abs. 2 S. 2, VwGO § 166 Abs. 1, ZPO § 114,
Auszüge:

[...]

3 Hier durfte das Verwaltungsgericht Prozesskostenhilfe nicht mit der Begründung versagen, die Klage sei angesichts der unter dem 11. Juni 2019 gemäß § 82 Abs. 2 Satz 2 VwGO wegen Fehlens einer ladungsfähigen Anschrift ergangenen Anordnung unzulässig. Insoweit kann offen bleiben, ob das Verwaltungsgericht bei der Beantwortung der Frage nach den Erfolgsaussichten der Klage auf die Zeit nach Ablauf der gemäß § 82 Abs. 2 Satz 2 VwGO gesetzten Frist abstellen durfte, oder ob der maßgebliche Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs hier bereits vor dem Erlass der richterlichen Anordnung lag.

4 Dem angegriffenen Beschluss ist zuzustimmen, dass zu den gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 173 Satz 1 VwGO, § 130 Nr. 1 ZPO erforderlichen Angaben, die den Kläger betreffen, grundsätzlich auch dessen ladungsfähige Anschrift zählt (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 13. April 1999 – 1 C 24/97 – juris Rn. 30 ff.; Beschluss vom 14. Februar 2012 – 9 B 79/11 – juris Rn. 11). Hiermit ist die Angabe des tatsächlichen Wohnortes gemeint, also die Anschrift, unter der der Kläger tatsächlich zu erreichen ist.  Die Wohnanschrift kann unter anderem für die behördliche oder gerichtliche Zuständigkeit sowie vor allem für die Identifizierung und Individualisierung des Klägers von Bedeutung sein.

5 Die Angabe der ladungsfähigen Anschrift ist grundsätzlich auch im Visumverfahren erforderlich, wobei bei einem Aufenthalt des Klägers im Ausland, zumal in Krisengebieten, oder angesichts besonderer persönlicher Umstände ggf. abweichende Maßstäbe anzulegen sind (vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. Juni 2019 – OVG 3 M 96.19 – juris). Ist der Kläger – wie hier – minderjährig, muss nach der Rechtsprechung des Senats nicht nur die Wohnanschrift des gesetzlichen Vertreters, sondern regelmäßig auch die hiervon abweichende Anschrift des Kindes angegeben werden (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Dezember 2011 – OVG 3 M 127.11 – juris = NJW 2012, 633).

6 Gemessen daran kann offen bleiben, ob die Angaben des in Syrien lebenden Klägers diesen Anforderungen genügten, denn selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, ist die hier unter dem 11. Juni 2019 erfolgte Setzung einer Ausschlussfrist nach § 82 Abs. 2 Satz 2 VwGO, die – wie der Wortlaut der Regelung verdeutlicht – im Ermessen des Vorsitzenden oder des Berichterstatters steht (vgl. auch W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl., § 82 Rn. 14; Aulehner, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., Rn. 76), ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig. Sie ist im Hinblick auf die hier vorliegenden besonderen Umstände des Einzelfalles nicht vereinbar mit dem Gebot einer fairen Verfahrensführung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. mit dem Gebot zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG. [...]