VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.10.2019 - A 12 S 2881/18 - Asylmagazin 1-2/2020, S. 34 - asyl.net: M27775
https://www.asyl.net/rsdb/M27775
Leitsatz:

Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht im Sinne des Asylgrundrechts ist keine Voraussetzung der Flüchtlingseigenschaft:

1. Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Qualifikationsrichtlinie (QRL) muss kein strikter Kausalzusammenhang zwischen Flucht und Verfolgung vorliegen, wie er nach der Rechtsprechung des BVerfG beim Grundrecht auf Asyl vorausgesetzt wird.

2. Ist eine Person vorverfolgt ausgereist, erfolgt eine Privilegierung nicht über eine Herabstufung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs wie beim Asylgrundrecht, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL, wonach vermutet wird, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist. Ob sich eine zeitliche Zäsur zwischen Verfolgungshandlung und Ausreise auf die Flüchtlingseigenschaft auswirkt, betrifft die Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, bzw., ob die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL greift.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Flucht, Verfolgung, Kausalität, Kausalzusammenhang, Beweiserleichterung, Prüfungsmaßstab, Asylgrundrecht, Flüchtlingseigenschaft, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, RL 2011/95/EU Art. 2,
Auszüge:

[...]

Das Asylgrundrecht setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von seinem Tatbestand her einen kausalen Zusammenhang zwischen Flucht und Verfolgung voraus (BVerfG, Beschlüsse vom 12.02.2008 - 2 BvR 2141/06 - juris Rn. 20, vom 20.02.1992 - 2 BvR 633/91 - juris Rn. 14 und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - juris Rn. 67). Dem Bundesverfassungsgericht zufolge fehlt der asylrechtlich geforderte Kausalzusammenhang zwischen politischer Verfolgung und Flucht, wenn ein Asylbewerber nach erlittener politischer Verfolgung noch längere Zeit im Heimatland verbleibt und in dieser Zeit dort unbehelligt und verfolgungsfrei leben kann (BVerfG, Beschluss vom 12.02.2008 - 2 BvR 2141/06 - juris Rn. 20). Auch soweit das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, der Klägerin drohe nicht allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden mit "hinreichender Wahrscheinlichkeit" eine Verfolgung, ist dies ein aus dem Asylgrundrecht entwickelter Prognosemaßstab. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG aF) ist die Asylberechtigung eines Asylbewerbers, der in der Vergangenheit bereits einmal politische Verfolgung erlitten hat, anzuerkennen, wenn sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen lässt, dass er im Fall der Rückkehr in seinem Heimatstaat erneut politischer Verfolgung ausgesetzt sein wird (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - juris Rn. 6).

Den nach der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 unionsrechtlich bestimmten Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist weder ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab im Falle einer Vorverfolgung noch eine strikte Kausalitätsprüfung zwischen Verfolgung und Flucht im Sinne des Asylgrundrechts inhärent. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt tatbestandlich eine begründete Furcht vor Verfolgung voraus. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - Verfolgungshandlungen wegen eines Verfolgungsgrundes aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser im Tatbestandsmerkmal "aus begründeter Furcht vor Verfolgung" enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, ihnen drohe erneut eine derartige Verfolgung (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 33.18 - juris Rn. 15 f. sowie Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - juris Rn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004; siehe zur Bestimmung der "begründeten Furcht" (Art. 2 lit. d RL 2011/95/EU) und zu Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU auch EASO, Richterliche Analyse, Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes, 2018, unter 1.9.1, S. 90 ff. und 1.9.2, S. 94 f.; Dörig in Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2nd. Ed., Art. 2 lit. d RL 2011/95/EU Rn. 7 ff., S. 1122 ff.; Art. 4 Abs. 4 Rn. 30 ff., S. 1139 f.; Dörig in ders., Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, § 13 Rn. 108 ff.).

Ein Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht im Sinne des Asylgrundrechts ist nicht Voraussetzung der unionsrechtlich normierten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Eine solches, selbstständiges Prüfungsmerkmal kennt die Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht. Welche Fol-gen ein Verbleib des Ausländers im Heimatland nach dort bereits erlittener oder - dem gleichstehend (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24.08 - juris Rn. 14) - ihm unmittelbar drohender Verfolgung hat, ist vielmehr eine Frage der "begründeten Furcht vor Verfolgung" im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG iVm Art. 2 lit. d Richtlinie 2011/95/EU bzw. der Frage, ob die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift (siehe hierzu Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., § 29 Rn. 59 ff., wonach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU nicht voraussetze, dass die Vorverfolgung ausreisebestimmend gewesen sein müsse; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris Rn. 39 f., nach den dort getroffenen Feststellungen führte das Verbleiben des Ausländers im konkreten Fall zu einer Rückausnahme von der Beweiserleichterung). [...]