VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 29.01.2019 - A 3 K 514/17 - asyl.net: M27780
https://www.asyl.net/rsdb/M27780
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine Christin aus China:

Menschen, die ihre Religion außerhalb der staatlich registrierten und anerkannten Religionsgemeinschaften praktizieren, droht landesweit Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: China, Christen, religiöse Verfolgung, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Art. 36 der Verfassung der Volksrepublik China unterscheidet zwischen der garantierten Glaubensfreiheit und der Freiheit "normaler" Religionsausübung, die die "öffentliche Ordnung, Gesundheit der Bürger und das staatliche Erziehungssystem nicht beeinträchtigen darf". Sämtliche religiöse Aktivitäten wie die Abhaltung von Gottesdiensten, der Besuch von Kirchen oder Moscheen und der Bau von Gotteshäusern unterliegen staatlicher Kontrolle und Genehmigung. Die Einfuhr von Print- und Bibelmaterial religiösen Inhalts ist auf den Eigenbedarf beschränkt. Staatsbediensteten und Funktionären der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ist es verboten, eine Religion auszuüben. Uigurische Funktionäre wurden dafür bestraft, religiöse Inhalte aus dem Internet herunterzuladen oder "offen ihre Religion" praktiziert zu haben. Alle religiösen Gruppierungen müssen sich beim Staatlichen Amt für Religiöse Angelegenheiten (SARA) registrieren lassen und sich einer der offiziell anerkannten kirchlichen Dachverbände unterordnen:

- Vereinigung der Buddhisten Chinas,

- Chinesische Taoistenvereinigung,

- Islamische Gesellschaft Chinas,

- Patriotische Vereinigung der chinesischen Katholiken

- Chinesisches Christliches Patriotisches Komitee der "Drei-Selbst-Bewegung"

- Chinesischer Christlicher Verein/Christenrat.

Unnachgiebig ist das Verhalten der Behörden gegenüber religiösen Aktivitäten dort, wo die chinesische Regierung die "drei Übel" - Terrorismus, Extremismus und Separatismus - im Spiel wähnt. Es gibt immer wieder Berichte über den Abriss von angeblich "nicht genehmigten" Gotteshäusern oder Kreuzen, während andererseits einzelne "offiziellen Kirchen" mit teils staatlichen Mitteln renoviert oder gar neu gebaut werden. Durch die Regierung werden Aktivitäten, Angestellte, Finanzen, Bestellung des religiösen Personals, Publikationen und Unterricht geprüft. Die Regierung bezeichnet religiöse Gruppen außerhalb ihrer Kontrolle als "Teufelskult". Das Christentum gilt gegenwärtig als die am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft in China. Schätzungen gehen von bis zu 100 Mio. Gläubigen aus, Tendenz schnell steigend. Insbesondere der Protestantismus gewinnt viele Anhänger. Nach Angaben der SARA sind in der "Drei-Selbst-Bewegung" 23 Mio. Protestanten und mehr als 50.000 Kirchen registriert. Daneben wächst besonders die Zahl der Hauskirchen (Zusammenschlüsse chinesischer Protestanten, die sich nicht den offiziell zugelassenen protestantischen Organisationen anschließen wollen) stetig. Seit Anfang 2014 hat allerdings die staatliche Repression deutlich zugenommen. In der Provinz Zhejiang wurden Kirchenbauten im Rahmen einer großen, auf drei Jahre angelegten Kampagne abgerissen und Kreuze entfernt, weil diese angeblich nicht den Bauvorschriften entsprachen. Die Massenverhaftungen von Menschenrechtsanwälten und Aktivisten im Sommer 2015 richteten sich in weiten Teilen auch gegen christliche Aktivisten sowie deren Rechtsanwälte. Seit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen zwischen China und dem Vatikan in den 1950er Jahren ist die Katholische Kirche mit insgesamt ca. 10-11 Mio. Gläubigen in China in die "Patriotische Vereinigung der chinesischen Katholischen Kirche" (ca. 6 Mio. Mitglieder), die die religiöse Autorität des Papstes nicht anerkennt, und die katholische Untergrundkirche gespalten, die sich weiterhin in der Gefolgschaft des Papstes sieht (vgl. Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China, Gz.: 508-516.80/3 CHN vom 28. Juni 2018 - Stand: Juni 2018, S. 18f.; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation China, Gesamtaktualisierung vom 14. November 2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 05. Februar 2018, S. 33f.).

Die Menschenrechtslage in China bietet weiterhin ein zwiespältiges und trotz allen Fortschritts im Ergebnis negatives Bild. 2004 wurde der Begriff "Menschenrechte" in die Verfassung aufgenommen, die individuellen Freiräume der Bürger in Wirtschaft und Gesellschaft wurden in den letzten Jahrzehnten erheblich erweitert. Andererseits bleiben die Wahrung der inneren Stabilität und der Machterhalt der KPCh oberste Prämisse und rote Linie. Vor diesem Hintergrund geht die chinesische Führung kompromisslos gegen jene vor, die als Bedrohung dieser Prioritäten angesehen werden, wie beispielsweise regierungskritische Schriftsteller, Blogger, Bürgerrechtsaktivisten, Menschenrechtsanwälte, Petitionäre oder Mitglieder nicht anerkannten Religionsgemeinschaften (Falun Gong, Hauskirchen etc.). Die seit 2008 zunehmende Repression hat sich seit Amtsantritt Xi Jinpings verstetigt und sich insbesondere nach dem 19. Parteitag im Oktober 2017 und dem 13. Nationalen Volkskongress im März 2018 nochmals verstärkt. Oberstes Ziel ist die Aufrechterhaltung "sozialer Stabilität", die aus Sicht der chinesischen Führung unerlässlich für die weitere Entwicklung des Landes ist. Zu beobachten ist der Ausbau eines autoritären Staates unter alleiniger Führung von Xi mit Tendenzen zu teilweise totalitären Strukturen. Ziele sind der Machterhalt der Partei sowie die Verankerung des Führungsanspruchs von Xi Jinping selbst. Dies spiegelt sich vor allem auch in der Menschenrechtslage wider und wirkt sich auf alle relevanten Bereiche und die Grundfreiheiten aus. Mit den im März 2018 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird durch die Entfristung der Amtszeit des Staatspräsidenten (damit Aufhebung eines geregelten Machtübergangs) und Überordnung der Partei über Recht und Justiz der absolute Machtanspruch der Kommunistischen Partei Chinas unter Xis Führung weiter festgeschrieben. In der Konsequenz zieht die chinesische Führung die Schraube der Repression unliebsamer Meinungen weiter an. Auch die Maßnahmen elektronischer Überwachung und Einschränkungen nehmen zu. Die Zivilgesellschaft ist überzeugt, dass sich dieser Trend unter Führung Xi Jinpings allenfalls weiter stärken und nicht umkehren wird. Neben immer wiederkehrenden Schlägen gegen einzelne kritische Stimmen zur allgemeinen Abschreckung kam es in den letzten Jahren zu gezielten Kampagnen gegen alle Kerngruppen der Zivilgesellschaft als Ganzes: So wurden seit Niederschlagung der "Neuen Bürgerbewegung" 2013 nacheinander die charismatischen Führungspersönlichkeiten unter den Aktivisten, NRO-Vertretern, Journalisten, Bloggern, Wissenschaftlern, Kirchenvertretern und Menschenrechtsanwälten verhaftet oder anderweitig mundtot gemacht. Das Vorgehen gegen politisch bis dahin unverdächtige Frauenrechtlerinnen (Verhaftung der Feminist Five im März 2015), gegen die Arbeiter-NROs (im Dezember 2015) oder die tausendfachen Abrisse von Kreuzen von Kirchen in der Provinz Zhejiang zeigen, dass zu stark werdender gesellschaftlicher Einfluss aus Sicht der Partei inakzeptabel ist. Die angewendeten Mittel zur Einschüchterung sind weitgehend gleich geblieben. Neu sind die großen Anstrengungen, viele der Maßnahmen zur Unterdrückung der Opposition auf eine rechtliche Grundlage zu stellen. Im Namen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung werden weitreichende Möglichkeiten zur Überwachung, Verfolgung und langjährige Haftstrafen geschaffen. Zudem bleiben extralegale Maßnahmen fester Bestandteil des Werkzeugkastens chinesischer Sicherheitsbehörden. Sie umfassen unter anderem willkürliche Haft, Folter, Druck auf Familienangehörige, Hausarrest ohne Rechtsgrund und Gängelei im Alltag. Daneben kamen erzwungene Fernsehgeständnisse immer häufiger zum Einsatz. Eine neue Dimension hat die Repression in China mit dem Ausgreifen auf das Ausland erreicht. Betroffen sind seit Oktober 2015 auch drei EU-Bürger. Hinzu kommen die Entführung einer Reihe chinesischer Dissidenten aus Thailand und Myanmar. Auch auf chinesische Dissidenten, die im Westen leben, wird Druck ausgeübt, indem man deren auf dem Festland lebende Familie verfolgt (vgl. Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China, a.a.O.). [...]