VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 16.05.2019 - A 10 K 6283/17 - asyl.net: M27788
https://www.asyl.net/rsdb/M27788
Leitsatz:

Abschiebungsverbot wegen fehlender Existenzgrundlage in Gambia:

1. Abschiebungsverbot für eine Familie mit drei minderjährigen Kindern. Da die Eltern weder über Schulbildung noch eine Berufsausbildung verfügen, keine Familienangehörigen haben, die sie unterstützen könnten und nach dem Tod der Eltern bzw. Schwiegereltern von ihrem Land vertrieben wurden, könnten sie keine Existenzgrundlage in Gambia finden.

2. Eine Genitalverstümmelung der Töchter ist nicht zu befürchten, da beide Eltern dies ablehnen und keine Familienangehörigen vorhanden sind, die sie erzwingen könnten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Gambia, Genitalverstümmelung, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Abschiebungsverbot, FGM,
Normen: AsylG § 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Grundsätzlich ist die FGM (female genital mutilation) eine Handlung, die aufgrund ihrer Art so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Zudem ist darin auch eine an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu sehen (so VG Freiburg, Urteil vom 07.02.2018 - A 1 K 6139/17 nicht veröffentlicht; VG Würzburg, Urteil vom 21.12.2018 - W 10 K 18.31682 juris Rn. 35; VG Aachen, Urteil vom 16.09.2014 - 2 K 2262/13.A -, juris Rn. 31; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 22.11.2017 - 9a K 5898/17.A-, juris Rn. 17). Vorliegend ist aber nicht festzustellen, dass den Klägerinnen zu 3 und 4 in Gambia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine FGM droht. [...]

Zwar geht die Einzelrichterin nach den vorliegenden Erkenntnismitteln davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in Gambia weit verbreitet ist. Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes ist dazu ausgeführt, dass die weibliche Genitalverstümmelung, von der etwa 80 % der weiblichen Bevölkerung betroffen ist, seit Dezember 2015 zwar verboten, aber dennoch weit verbreitet ist, da ein Beharren auf dieser "Tradition" bei mindestens sieben der neun größten ethnischen Gruppen eine wirkliche Verbesserung verhindert. Der Staat arbeitet mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Anwälten, Frauengruppen und der Polizei zusammen, um mehr Bewusstsein für und Wissen
über das Thema zu vermitteln. In der gebildeten Gesellschaftsschicht ist weibliche Genitalverstümmelung nach Regierungsangaben kaum verbreitet (Lagebericht Auswärtiges Amts Gambia, Stand Juli 2018, S. 6).

In der Anfragebeantwortung der Staaten Dokumentation Gambia Rechtslage zur FGM/C weibliche Genitalverstümmelung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.06.2018 ist ausgeführt, dass FGM in Gambia durch den Women's Amendment Act 2015 vom 27.12.2015 mit der Aufnahme der Abschnitte 32A und 32 B kriminalisiert ist. Dieses Gesetz verbietet alle Arten von FGM. Es gilt bundesweit bei Frauen und Mädchen. Allerdings gibt es eine Lücke im Gesetzestext, die genutzt werden kann, um das Verbot zu umgehen: Der Gesetzestexte verbietet nicht ausdrücklich das Schneiden, welches beispielsweise im Senegal durchgeführt wird (Republik Österreich - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 05.06.2018, Rechtslage zu FGM/C - Weibliche Genitalverstümmelung, S. 1 f. und 14 unter Verweis auf EASO The Gambia Country Focus, Dezember 2017, S. 71).

Statistiken zeigen, dass das Beschneiden in der Kindheit erfolgt, wobei 55 % der Frauen angeben, dass sie vor ihrem 5. Lebensjahr beschnitten wurden und 28 % angeben, zwischen ihrem 5. und 9. Lebensjahr beschnitten worden zu sein. Weitere 7 % wurden zwischen 10 und 14 Jahren beschnitten. Im Jahr 2010 hatten 42,4 % der Mädchen unter 15 Jahren eine FGM/C. Eine Umfrage zeigt, dass FGM/C in ländlichen Gebieten (79 % der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren) häufiger vorkomme als in städtischen Gebieten (72 %). Die Prävalenz war am höchsten in Basse (97 %) und Mansakonko (94 %) und am niedrigsten in Banjul (47 %) (Republik Österreich - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 05.06.2018, Rechtslage zu FGM/C - Weibliche Genitalverstümmelung, S. 3).

Weibliche Genitalverstümmelung wird in Gambia binnen der verschiedenen Volksgruppen unterschiedlich stark praktiziert. Bei den Sarahule sind 98 % der Frauen beschnitten. Die Wolof kennen traditionell keine FGM, trotzdem wird es bei 12,5 % ihrer Töchter praktiziert. Bei den Mandinka liegt die Beschneidungsquote bei 97 %, den Djola bei 87 % und den Serer bei 43 %. Unter den muslimischen Frauen sind 77 % beschnitten, bei den Christen sind es 21 % (Republik Österreich - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 05.06.2018, Rechtslage zu FGM/C - Weibliche Genitalverstümmelung, S. 14 unter Verweis auf die NGO Terres des femmes, Weibliche Genitalverstümmelung in Afrika, Gambia, 2016).

Das Immigration and Refugee Board of Canada führt aus, dass 95,7 % der FGM in Gambia von einem "traditional circumciser" durchgeführt werde, bei dem es sich traditioneller Weise um ältere Frauen der Gemeinschaft ("older Community women") handelt (Immigration an Refugee Board of Canada, 18.05.2018, The Gambia: Thepractice of female genital mutilation, 1.6). Am einflussreichsten bei der Entscheidungsfällung hinsichtlich der FGM seien die Großmütter (Immigration an Refugee Board of Canada, 18.05.2018, The Gambia: The practice of female genital mutilation, 4.1.1).

Allerdings besteht trotz der weiten Verbreitung von FGM in Gambia keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Klägerinnen zu 3 und 4 bei einer Rückkehr nach Gambia beschnitten werden. Denn nach einer Würdigung des konkreten Einzelfalls sind vorliegend besondere familiäre und soziale Umstände zu berücksichtigen, die die Wahrscheinlichkeit einer Genitalverstümmelung der Klägerinnen zu 3 und 4 erheblich senken, sodass letztlich eine beachtliche Wahrscheinlichkeit nicht besteht.

Zwar zählen die Klägerinnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der Volksgruppe der Mandinka, der durch ein einfaches Leben im ländlichen Bereich geprägten Herkunft ihrer Eltern sowie deren geringes Bildungsniveaus zu einer Bevölkerungsgruppe, bei der eine eher hohe Prävalenz von FGM besteht. Dementsprechend ist auch die Klägerin zu 2 ausweislich des vorgelegten ärztlichen Attests vom ... 2018 selbst beschnitten. Allerdings stellt ihr christlicher Glauben demgegenüber einen Umstand dar, der eher für eine niedrigere Prävalenz spricht Maßgeblich für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer den Klägerinnen drohenden Beschneidung ist vorliegend aber, dass die Kläger zu 1 und 2 sich in der mündlichen Verhandlung glaubhaft von der Beschneidungspraxis distanziert und erklärt haben, ihre Töchter nicht beschneiden zu wollen. Auch die Tatsache, dass die Klägerinnen zu 3 und 4 bislang keiner FGM unterzogen wurde, wie den vorgelegten ärztlichen Attesten vom ... 2018 zu entnehmen ist, spricht dafür, dass ihre Eltern diese ablehnt.

Soweit die Kläger zu 1 und 2 geltend machen, dass es bei einer Rückkehr nach Gambia nicht in ihrer Macht stände, ob die Klägerinnen zu 3 und 4 beschnitten würden, da auch in Gambia gegen den Willen der Eltern Beschneidungen zwangsweise durchgeführt werden, entspricht dies zwar grundsätzlich den vorliegenden Erkenntnismitteln (vgl. dazu Immigration an Refugee Board of Canada, 18.05.2018, The Gambia: The practice of female genital mutilation, 4.1.1). Allerdings besteht dafür keine beachtliche Wahrscheinlichkeit. Denn die Kläger verfügen ihren Angaben zufolge über keine familiären und sozialen Strukturen in Gambia. Sie haben glaubhaft angegeben, dass sie keine Verwandte mehr in Gambia haben, ihre Eltern verstorben und sie aus ihrer Dorfgemeinschaft vertrieben worden seien. Auf die Frage, von welchen Personen in Gambia eine derartige Gefahr einer ungewollten Beschneidung ausgehen könnte, haben die Kläger keine konkreten Angaben gemacht. Es ist daher weder von den Klägern substantiiert geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich, dass Nicht-Familienmitglieder gegen den Willen der Eltern in Gambia eine Beschneidung durchführen würden. Die Wahrscheinlichkeit dafür wird außerdem auch durch das grundsätzliche Verbot und die Strafbarkeit von Beschneidungen gesenkt. Ergänzend ist hinzuzufügen, dass gegen die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch spricht, dass die Kläger zu 1 und 2 eine ihren Töchtern in Gambia drohende Beschneidung bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt nicht geltend gemacht haben. [...]

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe sind angesichts der Lebensverhältnisse in Gambia sowie in Ansehung der persönlichen Situation der Kläger die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK ausnahmsweise erfüllt.

Hinsichtlich der allgemeinen Lebensverhältnisse in Gambia wird zunächst auf die Ausführungen des angegriffenen Bescheides verwiesen, die sich die Einzelrichterin insofern zu eigen macht (§ 77 Abs. 2 AsylG). Diese allein vermögen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK nicht zu begründen. Allerdings besteht aufgrund der besonderen Vulnerabilität der Kläger für diese in Gambia die konkrete und reale Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Lebenssituation. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Die Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 haben drei gemeinsame minderjährige Kinder geboren am ... 2018, am ... 2016 und am ... 2014. Beide haben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, in Gambia über keine familiären oder sozialen Strukturen zu verfügen. Beide Kläger haben in Gambia weder Eltern, Geschwister noch sonstige Verwandte. Ihr Bildungs- und Ausbildungsniveau ist niedrig. Der Kläger zu 1 hat keine Schule besucht und vor seiner Ausreise aus Gambia in der Landwirtschaft gearbeitet. Eine Ausbildung hat der Kläger zu 1 auch in Deutschland nicht absolviert. Die Klägerin zu 2 gab an, zwei Jahre die Primary School besucht zu haben und nach ihrer Heirat mit dem Kläger zu 1 gemeinsam auf dem Feld gearbeitet zu haben. Vor ihrer Ausreise aus Gambia seien sie ihren glaubhaften Angaben zufolge nach dem Tod des Vaters des Klägers zu 1 aus ihrem Heimatdorf in ... vertrieben worden. Das Landstück, auf dem sie zuvor Landwirtschaft betrieben hätten, sei ihnen weggenommen worden. Über sonstige Vermögenswerte oder Besitztümer verfügten die Kläger nicht. Bevor sie Gambia im Jahr 2011 verlassen hätten, hätten die Kläger zu 1 und 2, die damals noch kinderlos waren, lediglich durch Betteln ihre Existenz sichern können.

Vor diesem Hintergrund besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Gambia nicht in der Lage sein werden, ihre Existenzgrundlage in Gambia zu sichern. Die Möglichkeiten der Kläger zu 1 und 2 in Gambia eine Arbeit zu finden, sind angesichts ihres niedrigen Bildungsniveaus und der hohen Arbeitslosigkeit in Gambia gering. Hinzukommt, dass sie bei einer jetzigen Rückkehr anders als vor ihrer Ausreise nun die Lebensgrundlage einer fünfköpfigen Familie sichern müssen, wobei die Klägerin zu 2 aufgrund des betreuungsbedürftigen Alters ihrer Kinder nicht in gleichem Maße zum Familienunterhalt beitragen können wird, wie ihr das noch vor ihrer Kinderlosigkeit möglich war. Es besteht daher die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass den Kläger in Gambia ein Leben auf der Straße droht, ohne die Möglichkeit sich mit Nahrung und Kleidung zu versorgen.

Die Kläger können in Gambia auch nicht auf eine familiäre Unterstützung zurückgreifen. Auch bestehen keine sozialen Netzwerke, durch die sie unterstützt werden könnten. Dies hat sich bereits vor ihrer Ausreise aus Gambia gezeigt. Ferner ist nicht hinreichend sichergestellt, dass sie eine adäquate staatliche Unterstützung erhalten werden. Gerade für Rückkehrer existieren nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes keine staatlichen Einrichtungen zur Aufnahme. Rückkehrer werden vielmehr in der Regel wieder durch die gambische Großfamilie aufgenommen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia, Stand Juli 2018, S. 9). Auch ist nicht hinreichend sicher, ob zumindest die Klägerinnen zu 2, 3 und 4 Anspruch auf den staatlichen "Social Welfare Service" haben könnten, der für Frauen und Kinder Unterbringung und Nahrung anbietet (dazu Lagebericht Auswärtiges Amts Gambia, Stand Juli 2018, S. 9), da diese nicht alleinstehend sind und auf die Unterstützung durch den Kläger zu 1 verwiesen werden können. [...]