VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 04.10.2017 - 5 K 1908/16.A - asyl.net: M27792
https://www.asyl.net/rsdb/M27792
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für lesbische Frau aus Algerien:

1. Homosexuellen Personen droht in Algerien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den Staat. Ein „real risk“ sowohl der Strafverfolgung als auch insbesondere der Verhängung einer Freiheitsstrafe kann regelmäßig nicht angenommen werden.

2. Droht einer homosexuellen Person hingegen Verfolgung durch ihre Familie, ist nicht davon auszugehen ist, dass der algerische Staat hiervor hinreichend Schutz gebieten kann. Eine interne Fluchtalternative steht einer alleinstehenden Frau in Algerien nicht offen.

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Algerien, homosexuell, Strafbarkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Familie, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

16 [...] Die Klägerin hat Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 des Asylgesetzes (AsylG).

17 Die Klägerin hat zunächst keinen Anspruch aufgrund staatlicher Verfolgung wegen ihrer Homosexualität. [...]

21 Eine solche Verfolgung ist hier auch insbesondere nicht darin zu erblicken, dass homosexuelle Handlungen nach Art. 338 des algerischen Strafgesetzbuchs strafbar sind und Art. 333 eine qualifizierte Strafbarkeit für Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Bezügen zur Homosexualität vorsieht. [...]

23 Der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher stellt indes keine Verfolgungshandlung dar. [...]

24 Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Freiheitsstrafe aufgrund der benannten Normen in Algerien tatsächlich verhängt wird, sodass die Klägerin Grund zu der Befürchtung gehabt hätte, verfolgt zu werden. [...]

33 Die Klägerin hat aber Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG, da ihr Verfolgung durch ihre Familie droht, vor der der Staat Algerien ihr keinen hinreichenden Schutz zuteil werden lassen wird, § 3c Nr. 3 AsylG.

34 Zur Überzeugung des Gerichtes hat die Klägerin vorgetragen, dass sie wegen ihrer Homosexualität von ihrer Familie mehrere Jahre unter eine Art Hausarrest gestellt wurde und nur mit jeweiliger Erlaubnis der Eltern das Haus verlassen durfte. Die Klägerin hat ferner auch mitgeteilt, dass sie insbesondere von ihrem Vater wegen ihrer Homosexualität geschlagen wurde und – nach ihrer Flucht – ihr Vater sich eine Waffe zugelegt habe, mit der er sie umbringen wolle. Dies hat die Klägerin von ihrer Schwester erfahren. Ferner haben die Eltern der Klägerin diese zu einer Psychotherapie gezwungen, um die von ihnen als Krankheit angesehene Homosexualität zu "heilen", wobei der Klägerin hierbei eine Medikation verschrieben und verabreicht wurde, die ihr erhebliche gesundheitliche Beschwerden eingebracht hat.

35 Jedenfalls in der Gesamtschau geht das Gericht davon aus, dass diese Handlungen die Schwelle zu einer Verfolgungshandlung gemäß § 3a AsylG überschreiten.

36 Hiervor kann die Klägerin keinen internen Schutz erlangen. Denn der Staat Algerien ist nicht willens Homosexuelle vor den Übergriffen ihrer Familie zu schützen.

37 Auch eine interne Fluchtalternative steht der Klägerin nicht offen. Insoweit kann es dahinstehen, ob die Familie der Klägerin – wie diese geltend macht – diese landesweit wird verfolgen können. Denn den Erkenntnismitteln lässt sich nicht entnehmen, dass eine solche interne Flucht der Klägerin zumutbar wäre. Denn es ist für eine alleinstehende Frau in Algerien mit erheblichen Schwierigkeiten versehen sich eine Wohnung zu mieten und einer Arbeit nachzugehen (Canada: Immigration and Refugee Board of Canada, Algeria: Situation of single or divorced women living alone, particularly in Algiers; whether they can find work and housing; support services available to them (2012-2015), 13 August 2015). Es ist hiernach sehr ungewöhnlich, dass Frauen allein leben. Selbst geschiedene oder verwitwete Frauen leben regelmäßig mit männlichen Familienangehörigen zusammen, was für die Klägerin keine Option ist. [...]