VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 14.12.2017 - 4 A 8009/16 - asyl.net: M27796
https://www.asyl.net/rsdb/M27796
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuelle Person aus Afghanistan:

„1. Homosexuellen droht in Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung in Anknüpfung an das für sie identitätsprägende Merkmal der sexuellen Orientierung.

2. Es kann von einem Homosexuellen nicht verlangt werden, seine sexuelle Orientierung, die Teil seiner Identität ist, in Afghanistan zu verbergen oder zum Schein vorzugeben, heterosexuell zu sein, um der Gefahr einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung zu entgehen.“

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Afghanistan, homosexuell, Hazara, sexuelle Orientierung, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

16 1. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. [...]

22 Das Gericht ist nach der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass er homosexuell ist (hierzu a)). In Afghanistan hat der Kläger deshalb landesweit mit Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG zu rechnen (hierzu b)).

23 a) Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass der Kläger homosexuell ist und seine Sexualität auch durch geschlechtlichen Umgang mit anderen Männern auslebt. [...]

27 b) Die sexuelle Orientierung des Klägers führt zu einer landesweiten Verfolgungsgefahr in Afghanistan. Nach der Überzeugung des Gerichts sind Homosexuelle in Afghanistan gezwungen, ihre Homosexualität zu verbergen, da sie andernfalls schwerwiegende Übergriffe durch staatliche wie nichtstaatliche Akteure zu befürchten hätten.

28 Die afghanische Verfassung kennt kein Verbot der Diskriminierung auf Grund sexueller Orientierung. Einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen sind in Afghanistan illegal und können nach dem afghanischen Strafgesetzbuch mit langjährigen Haftstrafen bestraft werden (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, Stand: 19.4.2016, S. 83, Asyldokumentation des OVG Hamburg, Afghanistan, G 2/16, im Folgenden: UNHCR, Richtlinien April 2016). [...]

29 Das Gesetz kriminalisiert einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivitäten – berichtet wurde von anhaltender Belästigung, Gewalt und Inhaftierungen durch die Polizei. Es existiert kein Gesetz, das Diskriminierung und Belästigung aufgrund von sexueller Orientierung oder "gender identity" thematisiert. Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft hatten keinen Zugang zu manchen Gesundheitsleistungen und können aufgrund ihrer sexuellen Orientierung von ihren Jobs entlassen werden. Organisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Freiheiten von LGBT-Personen zu schützen, blieben im Untergrund, da sie nicht legal registriert werden konnten. Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft wurden auch weiterhin diskriminiert misshandelt, vergewaltigt und verhaftet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 27. Juni 2017, S. 171 unter Berufung auf USDOS, 13.4.2016: Country Report on Human Rights Practices 2015 - Afghanistan, Asyldokumentation des OVG Hamburg, Afghanistan, G 20/17).

30 Zwar ist eine systematische Verfolgung Homosexueller durch staatliche Organe in Afghanistan nicht nachweisbar. Dies liegt allerdings an der vollkommenen Tabuisierung des Themas (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2016, S. 16). [...]

31 Dass sich der von den Taliban verbotene Brauch der Bacha Bazi, bei dem Jungen von einflussreichen Personen gehalten werden, die sie in weiblicher Kleidung vor einem männlichen Publikum tanzen lassen und sie für sexuelle Zwecke missbrauchen, Berichten zufolge weiter verbreitet (UNHCR, Richtlinien April 2016, S. 78; Auswärtiges Amt, Lagebericht 2016, S. 13), kann nicht zu der Annahme führen, dass Homosexualität unter erwachsenen Männern von der afghanischen Mehrheitsgesellschaft gleichfalls stillschweigend toleriert würde. Zudem wird in den Teilen der afghanischen Gesellschaft, in denen sexuelle Kontakte zwischen Männern nicht ungewöhnlich sind, zwischen gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakten und Gefühlen der Liebe gegenüber einem anderen Mann unterschieden. Letzteres wird als Sünde aufgefasst und stellt eine Straftat unter dem Gesetz der Scharia dar (UNHCR, Richtlinien April 2016, S. 83, Fn. 466). [...]

32 Diskriminierung und Gewalt begegnet Homosexuellen, denen aufgrund einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen ein Verstoß gegen die Scharia vorgeworfen wird, daneben oftmals auch innerhalb der eigenen Familie, ihrer Gemeinschaft oder durch regierungsfeindliche Kräfte (UNHCR, Richtlinien April 2016, S. 62, 83 f.). [...]

33 Die Gefahr einer strafrechtlichen Sanktionierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen steht dabei einem Schutz von homosexuellen Personen durch den afghanischen Staat entgegen, selbst wenn die eigentlichen Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure wie Mitglieder der eigenen Familie oder Gemeinschaft bzw. durch regierungsfeindliche Kräfte wie die Taliban oder andere Gruppierungen erfolgen. [...]