VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 03.04.2019 - 4 K 1853/16.A - asyl.net: M27798
https://www.asyl.net/rsdb/M27798
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für eine jesidische Familie aus dem Irak mit sechs teilweise schon volljährigen Kindern wegen Gefahr der Verelendung durch hohe Arbeitslosigkeit, schlechte medizinische Versorgung und besonders wegen der Gefahr obdachlos zu werden, da die Familie zur Finanzierung ihrer Flucht ihr Wohnhaus verkauft hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Nordirak, Yesiden, Existenzminimum, Existenzgrundlage, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, humanitäre Gründe, Abschiebungsverbot, Obdachlosigkeit, medizinische Versorgung, Kurden,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen besteht im gesamten Irak und insbesondere in der hier maßgeblichen Region Kurdistan-Irak eine angespannte humanitäre Situation. Neben einer dort schon länger herrschenden Wirtschafts- und Finanzkrise haben die in der Region Kurdistan-Irak lebenden etwa 1,8 Mio. Binnenflüchtlinge (IDPs) zuzüglich der dort aufhältigen etwa 240.000 syrischen Flüchtlinge nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge, sondern der lokalen Bevölkerung geführt (vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Lagebericht) vom 12. Januar 2019, S. 24; UK Home Office, Country Policy Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 20, Ziff. 6.3.1; Danish Immigration Service, Country Report, Country of Origin Information (DIS COI), Northern Iraq - Security situation and die situation for the internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), November 2018, S. 79, Ziff. 260).

Die Region Kurdistan-Irak hat mitgeteilt, dass sie Unterkunft und Hilfsleistungen für die (Binnen-)Flüchtlinge nicht länger sicherstellen kann. Aus diesem Grund werden die Binnenflüchtlinge angehalten, in ihre Heimatregionen zurückzukehren. Dem kommen diese - aus unterschiedlichen Gründen - bislang aber nicht in ausreichendem Maße nach. Viele von ihnen, die versucht haben, in ihre Heimatregionen im Irak zurückzukehren, sind gescheitert und kommen ein zweites Mal als Binnenflüchtlinge in die Region Kurdistan-Irak zurück (sog. "secondary displacement"). So sind seit Januar 2018 etwa 10.000 ursprünglich aus Mossul stammende Menschen, die versucht haben, nach dort zurückzukehren, wieder zurück in die Region Kurdistan-Irak gekommen. Bei ihrem Versuch, erneut Aufnahme in den Flüchtlingscamps zu finden, sind sie zum Teil gescheitert, weil diese überfüllt und die Wartelisten lang sind (vgl. DIS COI, a.a.O., S. 73, Ziff. 220, S. 76, Ziff. 244 und S. 80 f., Ziff. 268 f., 273; European Asylum Support Office (EASO), Country of Origin Information Report, Iraq - Key socio-economic indicators, Februar 2019, S. 23).

Durch die Bevölkerungszunahme wird auch die lokale Bevölkerung - und damit auch die Rückkehrer - u. a. durch begrenzte Wasser- und Stromressourcen und eine angespannte Situation am Arbeits- und Wohnungsmarkt seit längerem erheblich belastet (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Länderinformationsblatt Irak vom 24. August 2017/18. Mai 2018, S. 116 ff.).

Im Februar 2018 waren fast 1,9 Mio. Iraker von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen; zudem sind weitere 2,4 Mio. Iraker von Nahrungsmittelunsicherheit bedroht. 22,9 % der Kinder sind unterernährt. 25 % der Kinder im Irak lebt in Armut. Resultierend aus den kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre ist die landwirtschaftliche Produktion um 40 % im Vergleich zu der Zeit vor 2014 zurückgegangen. Rückkehrer berichteten (Veröffentlichung der Studie im Januar 2019), dass Nahrungsmittel unzureichend verfügbar und häufig nur zu nicht erschwinglichen Preisen erhältlich seien (vgl. UK Home Office, a.a.O., S. 29, Ziff. 6.13.1; AA, Lagebericht vom 12. Januar 2019, S. 25; EASO, a.a.O., S. 48 und 55 f.).

Zwar gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Lebensmittelrationen hat. Das World Food Programm unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan-Irak seit 1996. In der Provinz Dohuk gibt es 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Hilfsorganisationen arbeiten daran, Versorgungslücken zu schließen, um die Bevölkerung zu versorgen. Funktionierte das System trotz Verzögerungen einiger Lebensmittellieferungen bis etwa Anfang 2018 in der Provinz Dohuk noch relativ gut, wird inzwischen von signifikanten Leistungsschwächen des Systems insbesondere für Rückkehrer berichtet. Berichten zufolge ist ihnen der Zugang zum Lebensmittelverteilungssystem erheblich erschwert. Nicht einmal 12 % der Rückkehrer erreichen die Lebensmittelgutscheine, und wenn, dann erhalten sie größtenteils nur die halbe Ration (vgl. AA, Lageberichte vom 12. Januar 2019, S. 25 und vom 12. Februar 2018, S. 22; EASO, a.a.O., S. 95 f, 98; ACCORD, Anfragebeantwortung vom 10. Mai 2017 zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für Rückkehrer).

Aufgrund lang anhaltender Dürrejahre ist auch die Versorgung mit Frischwasser nicht überall gewährleistet. Ländliche Gegenden haben die größten Probleme, Frischwasserversorgung und Kanalisation sicherzustellen. Zum Teil variiert sie je nach Region hinsichtlich der wöchentlich verfügbaren Tage (zwischen drei Tage pro Woche bis sechs Tage pro Woche). Es wird von Wasserknappheit berichtet (vgl. EASO, a.a.O., S. 55 f.).

Zwar sind alle Iraker - und damit auch Rückkehrer - automatisch im Sozialsystem registriert und haben grundsätzlich Zugang zu allen Sozialleistungen. Allerdings haben nur körperlich Eingeschränkte, Familien von MärtyerInnen und Waisen Anspruch auf Sozialleistungen. Um einer dieser Personengruppen zugeordnet zu werden, müssen wiederum bestimmte Kriterien erfüllt werden. So muss etwa der Grad der Behinderung bis zu 70 % betragen, um sich für die Sozialleistungen zu qualifizieren. Dieser Prozentsatz variiert wiederum je nach Art der Behinderung. Binnenflüchtlinge mit Behinderungen in der Region Kurdistan-Irak verfallen - wenn sie nicht von Familie, Freunden, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder sonstigen Wohltätigkeitsorganisationen aufgefangen werden - in Armut, da sie vom unterfinanzierten Sozialsystem nicht erfasst werden (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Autonome Region Kurdistan: Lage von RückkehrerInnen aus dem Ausland: Schikanen, Diskriminierungen, Wohnraum, Kosten, Arbeitslosenrate, Erwerbsrestriktionen; Sozialsystem; Schwierigkeiten für RückkehrerInnen aus Europa [a-10882-3 (10884)], S. 9; EASO, a.a.O., S. 97 f.).

Auch die medizinische Versorgungssituation bleibt angespannt. Der Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Grundversorgung hat sich zunehmend verschlechtert. Viele Ärzte arbeiten inzwischen in Privatkliniken, sodass insbesondere für Menschen aus ärmeren Verhältnissen der Zugang zu medizinischer Versorgung erschwert ist. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher Mängel, personeller Engpässe oder Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung - insbesondere größerer Mengen an Patienten zeitgleich - sicherzustellen. Zudem sind Krankenhäuser und medizinische Versorgungszentren weitgehend in städtischen Gegenden, vornehmlich in Bagdad konzentriert. Infolgedessen ist eine medizinische Grundversorgung in ärmeren ländlichen Regionen nicht oder nur sehr unzulänglich erhältlich. Es existiert kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Medizinische Versorgung muss daher selbst "aus der eigenen Tasche" bezahlt werden, was sich viele Iraker nicht leisten können. Obgleich die durch die irakische Regierung neu eingeführten Tarife für öffentliche medizinische Versorgung verhältnismäßig moderat sind [IQD 2.000.- (= 1,48 Euro) für eine ärztliche Konsultation und IQD 1.000.- (= 0,74 Euro) für die Ausstellung eines Rezepts], können sich ärmere Bevölkerungskreise diese nicht leisten. Korruption ist weit verbreitet. Die große Zahl an Flüchtlingen und Binnenflüchtlinge belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen (vgl. AA, Lagebericht vom 12. Januar 2019, S. 25; EASO, a.a.O., S. 75 ff.).

Die Krankenhäuser in der Region Kurdistan-Irak können die medizinische Versorgung weder der lokalen Bevölkerung noch der Binnenflüchtlinge sicherstellen (vgl. DIS COI, a.a.O., S. 81, Ziff. 268).

Zwar hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Unterstützungsgelder von Spendern erhalten, um die medizinische Versorgung der Flüchtlinge innerhalb und außerhalb der Flüchtlingscamps sicherzustellen, nicht aber für die lokale Bevölkerung und mithin nicht für Rückkehrer (vgl. DIS COI, a.a.O., S. 53 Ziff. 96).

Menschen mit Behinderungen haben im Irak nur begrenzten bis keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Rehabilitationsmaßnahmen oder Versorgung mit Prothesen etc. Dies ist auf einen Mangel an Medikamenten und spezialisierter Ausstattung zurückzuführen (vgl. EASO, a.a.O., S. 78).

Auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak ist nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen prekär. Diese Region befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise, aufgrund derer es nur wenige Arbeitsplätze gibt bei gleichzeitigem Anstieg der Waren- und Mietpreise. Zugleich existieren zu wenig staatliche und internationale humanitäre Hilfeleistungen (vgl. ACCORD, a.a.O., S. 2 f.; DIS COI, a.a.O., S. 26, Ziff. 2.1.).

Arbeitslosigkeit ist in der gesamten Region Kurdistan-Irak weit verbreitet und der Kampf um Arbeitsplätze nimmt zu. Die Arbeitslosenquote beträgt 14 %; Jugendarbeitslosigkeit übersteigt geschätzt 40 %. Insbesondere junge Menschen haben große Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden. Knapp über 40 % der Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren ist im öffentlichen Sektor angestellt. In 2017 waren 56 % der Frauen im Alter von 15 bis 24 Jahren arbeitslos. Die Arbeitslosenrate unter jungen Menschen ist höher bei Personen mit einer höheren Ausbildung. Dies ist u.a. auf die sog. "Wasta"-Kultur zurückzuführen, d.h. die Zuhilfenahme familiärer Beziehungen, um an einen Job zu gelangen. Aufgrund von "Wasta" kommen teilweise besser ausgebildete junge Menschen nicht in Arbeit.

Viele Menschen, die im Jahr 2014 ihren universitären Abschluss gemacht haben, sind nach wie vor nicht in Arbeit. Diejenigen, die Jobs erhalten haben, sind von Politikern und Regierungsmitgliedern unterstützt worden. Oft kann eine höhere Position nicht erlangt werden, wenn man nicht die regierende Kurdische Demokratische Partei (KDP) unterstützt. Verbindungen in politische Kreise ist ein Schlüsselkriterium, um in Arbeit zu kommen ("Vetternwirtschaft"). Die Zahlung von Bestechungsgeldern sind an der Tagesordnung, was es ärmeren Menschen, die sich eine solche Zahlung nicht leisten können, schwieriger macht, einen Job zu finden.

Arbeitsmöglichkeiten im öffentlichen Sektor haben alles in allem abgenommen; viele Stellen im öffentlichen Sektor wurden gestrichen. Im privaten Sektor sind durchaus Arbeitsmöglichkeiten vorhanden. Allerdings sind diese, insbesondere im Vergleich zum Zeitraum vor der IS-Krise, immer noch rar. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land wurde das staatliche Programm zur Arbeitslosenunterstützung eingestellt, d.h. es wird aktuell keine Arbeitslosenhilfe gezahlt (vgl. zu allem Vorstehenden: ACCORD, a.a.O., S. 5 f., 7 und 8; EASO, a.a.O., S. 33, 36, 37; UK Home Office, a.a.O., S. 13, Ziff. 2.4.4.; DIS COI, a.a.O., S. 43, Ziff. 29, und S. 50, Ziff. 75).

Das durchschnittliche monatliche Einkommen im Irak beträgt zwischen US$ 200.- und 500.-. 87 % der Haushalte in der Region Kurdistan-Irak haben weniger als US$ 850.- Einkommen monatlich zur Verfügung (vgl. ACCORD, a.a.O., S. 5, 7 und 8).

Losgelöst von statistischen Erhebungen sind irakische Familien im realen Leben in der Regel auf mehr als ein Einkommen finanziell angewiesen. 40 % der Rückkehrer berichten, nicht zu arbeiten, weil keine Jobs verfügbar seien. Zugleich gaben 2/3 der interviewten Rückkehrer an, es "schwierig oder unmöglich zu empfinden, mittels ihres eigenen Einkommens zu überleben" (vgl. EASO, a.a.O., S. 37, 39).

Auch die Versorgung mit Wohnraum in der Region Kurdistan-Irak ist angespannt. Die Unterbringungssituation außerhalb der Flüchtlingslager gestaltet sich schwierig. Der hohe Bevölkerungszuwachs in der Region Kurdistan-Irak hat zu einer wachsenden Nachfrage und steigenden Mieten geführt. Die Höhe der Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und Ausstattung ab. Außerhalb der Stadtzentren sind die Preise für gewöhnlich günstiger. In der Region Kurdistan-Irak liegt die Miete zwischen US$ 200.- bis 600.- für eine Zweizimmerwohnung. Hinzu kommen monatliche Nebenkosten für Gas in Höhe von etwa 11.- Euro, Wasser in Höhe von etwa 7,40 - 18,50 Euro, öffentliche Elektrizität in Höhe von etwa 22,20 - 29,60 Euro und private oder nachbarschaftliche Generatoren in Höhe von etwa 29,60 - 44,30 Euro. Öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche besteht für Rückkehrende nicht; private Immobilienfirmen können helfen (vgl. ACCORD, a.a.O., S. 4).

Die Wohnungspreise in der Region Kurdistan-Irak sind im Jahr 2018 um 20 % und die Mietpreise um 15 % gestiegen; ein weiterer Anstieg wird erwartet. Die Nachfrage nach Mietwohnungen ist im zweiten Halbjahr 2018 im Vergleich zum ersten Halbjahr um 45 % gestiegen. Im Mai 2018 hat die Miete für ein Haus in Erbil 500.- US$ betragen, nun liegt sie bereits bei 650.- US$. Aufgrund der hohen Nachfrage sind derzeit keine Häuser verfügbar (vgl. ACCORD, a.a.O., S. 2).

Insgesamt ist nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen festzustellen, dass abgewiesene Asylbewerber bei ihrer Rückkehr in die Region Kurdistan-Irak erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt sind, wenn sie nicht auf ein unterstützendes (familiäres) Netzwerk zurückgreifen können. Rückkehrer stellen für die Region Kurdistan-Irak auch deshalb eine besondere Belastung/Herausforderung dar, weil der Fokus der staatlichen/nichtstaatlichen Hilfeleistungen auf den Binnenflüchtlingen und nicht auf den Rückkehrern liegt.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen wird eine Unterstützung der Gemeinschaft in vielerlei Hinsicht für wichtig erachtet: Zum einen ist eine Reintegration ohne Familienanschluss schwierig, da die Lebenshaltungs- und Wohnungskosten hoch sind. Was die häusliche Unterbringung angeht, könnte es - ohne familiäre Unterstützung - zu Schwierigkeiten kommen, etwa eine Wohnung/Hotelzimmer anzumieten, da die Hotels ihre Gästelisten den kurdischen Behörden übergeben. Selbst gut ausgebildeten Menschen (Akademiker) fällt es schwer, aus eigener Kraft und ohne Familienanschluss in der Region Kurdistan-Irak zu leben. Zum anderen ist die Kapazität der Gemeinschaft/des Dorfes zur Aufnahme von Rückkehrern entscheidend, etwa wenn eine Gemeinde zeitgleich eine größere Menge an Rückkehrern aufnehmen muss, Arbeitsplätze aber nicht für alle vorhanden sind. Ausschlaggebender Faktor für die Zukunftsfähigkeit eines Rückkehrers ist seine wirtschaftliche Situation. Aus diesem Grund ist es bedeutsam, auf ein gutes familiäres Netzwerk zurückgreifen zu können, etwa um etwa in niedrigschwellige Jobs zu kommen. Außerdem wird die Infrastruktur als ein wichtiger Faktor für die langfristige erfolgreiche Reintegration angesehen, da es in ländlichen Gebieten kaum Arbeitsmöglichkeiten gibt. Ein ÖPNV-System existiert nicht, sodass in ländlichen Regionen der Besitz eines Autos unerlässlich ist (vgl. ACCORD, a.a.O., S. 10; UK Home Office, a.a.O., S. 12, Ziff. 2.4.3; DIS COI, a.a.O., S. 39, Ziff. 3.3 und S. 82, Ziff. 282, S. 88 Rn. 316 ff.).

Nach Auswertung sämtlicher Erkenntnisse und des Vortrags der Kläger ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass im Falle ihrer Abschiebung in ihre Heimatregion im Irak ( Provinz Dohuk, Region Kurdistan-Irak) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt werden würde, in dem sie zeitnah verelenden würden und schweren bleibenden körperlichen und psychischen/seelischen Leiden ausgesetzt wären.

Als jesidische Kurden, die in der Region Kurdistan-Irak registriert sind, könnten sie zwar sicher und legal wieder in die Region Kurdistan-Irak einreisen und sich - grundsätzlich - dort niederlassen (vgl. zu den diesbezüglichen Anforderungen etwa: VG Aachen, Urteil vom 6. März 2019 - 4 K 2386/17.A -, S. 15 des Urteilsabdrucks (ständige Kammer-Rechtsprechung)).

Allerdings erscheint es der Kammer nach den vorliegenden Erkenntnissen nahezu ausgeschlossen, dass die Kläger im Falle ihrer Rückkehr in ihre Heimatregion dort zeitnah Unterkunft finden werden.

Denn sie haben, den überzeugenden Schilderungen des Klägers zu 1. in der mündlichen Verhandlung zufolge, das in ihrem Eigentum stehende Wohnhaus vor ihrer Ausreise verkauft, um die Ausreise aus dem Irak finanzieren zu können. So musste dieser etwa, um für sämtliche Kläger Visa zur Familienzusammenführung zu dem in Deutschland als Flüchtling anerkannten Sohn/Bruder ... zu erhalten, mehrfach bei der Deutschen Botschaft in Ankara, Türkei, vorsprechen und Flugtickets für alle Familienmitglieder käuflich erwerben.

Im Falle ihrer Rückkehr in die Region Kurdistan-Irak müssten die Kläger mithin zunächst Unterkunft für die achtköpfige Großfamilie, davon vier minderjährige Kinder, finden. Nach der aktuellen Erkenntnislage ist es bei der derzeitigen Wohnungsmarktsituation in ihrer Heimatregion indes beachtlich wahrscheinlich, dass ihnen dies nicht gelingen wird.

Wohnraum ist in der Provinz Dohuk derzeit kaum verfügbar. Öffentliche Unterstützungsleistungen bei der Wohnungssuche existieren nicht. Die Kläger verfügen auch nicht über ein familiäres Netzwerk, das ihnen bei der Unterkunftssuche Hilfestellung leisten könnte. Nach den glaubhaften Schilderungen der Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung verfügen sie über keine Familienangehörigen mehr in der Region Kurdistan-Irak, die sie im Falle ihrer Rückkehr bei der Reintegration unterstützen, ihnen bei der Unterkunftssuche helfen oder ihnen gar selbst längerfristig Aufnahme/Obdach gewähren könnten. Zwar leben derzeit noch entferntere Verwandte (Cousins/Cousinen) sowohl des Klägers zu 1. als auch der Klägerin zu 2. in der Region Kurdistan-Irak. Zu diesen unterhalten die Kläger aber zum einen bereits seit längerer Zeit keinen Kontakt mehr. Zum anderen haben diese entfernten Verwandten ihrerseits selbst Familie und sind - den überzeugenden Schilderungen der Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung zufolge - weder finanziell noch räumlich imstande, eine achtköpfige Großfamilie aufzunehmen. Dass die Kläger - nach dem Verkauf ihres Hauses - vor ihrer Ausreise, wie ihr am Verfahren nicht beteiligter Sohn/Bruder ... im Rahmen seiner Befragung beim Bundesamt angegeben hatte, bei einem Bruder/Onkel untergekommen seien, konnten die Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung der Kammer erklären. So haben sie übereinstimmend spontan und emotional geschildert, dass ihr Sohn . immer schon eine große Fantasie gehabt und es mit der Wahrheit nicht allzu genau genommen habe.

Selbst wenn man - was nach den vorstehenden Ausführungen nicht beachtlich wahrscheinlich ist - annähme, dass die Kläger zeitnah eine räumlich auskömmliche Unterkunft für die achtköpfige Großfamilie fänden, ist es beachtlich wahrscheinlich, dass sie eine solche Unterkunft nicht langfristig finanzieren könnten.

Dass die Kläger zu 3. bis 6., die im (nahezu) erwerbsfähigen Alter von 15 bis 20 Jahren sind, zeitnah in Arbeit kommen, ist nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen und der derzeitigen hohen Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 40 %, die bei jungen Frauen sogar noch höher ist (56 %), nicht beachtlich wahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass die Klägerin zu 2., die in ihrem gesamten Leben bislang noch nie gearbeitet, sondern vielmehr ihre elf Kinder erzogen und den Haushalt der Familie geführt hat, in absehbarer Zeit Arbeit finden wird. Die Familie verfügt ihren glaubhaften Schilderungen in der mündlichen Verhandlung zufolge auch nicht über Verbindungen zur Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), die ihr Hilfestellung bei der Jobsuche leisten könnte. Selbst wenn man davon ausginge, dass der Kläger zu 1. Arbeit fände, ist es beachtlich wahrscheinlich, dass es sich dabei maximal um einen Gelegenheitsjob handeln würde. Zum einen hat er seinen glaubhaften Ausführungen in der mündlichen Verhandlung zufolge sein gesamtes Leben lang nur im niederschwelligen Lohnbereich gearbeitet. Zum anderen hat er keine Berufsausbildung oder gar ein Studium abgeschlossen, die ihm eine Perspektive für einen besser entlohnten Job geben könnten. Selbst wenn man annähme, dass der Kläger zu 1. im Falle seiner Rückkehr eine Arbeitsstelle fände, ist es beachtlich wahrscheinlich, dass sein Gehalt für die monatlich anfallende Miete sowie die Lebenshaltungskosten für die achtköpfige Familie nicht auskömmlich wäre. Das derzeitige durchschnittliche  Monatseinkommen liegt zwischen US$ 200.- bis 500.-. Die durchschnittliche monatliche Miete schon für eine Zweizimmerwohnung beträgt derzeit zwischen US$ 200.- bis 600.-, wobei bei einer achtköpfigen Familie voraussichtlich eine Miete im oberen Drittel anzusetzen sein dürfte.

Es spricht nach den vorliegenden Erkenntnissen mithin alles dafür, dass die Kläger - unterstellt, sie fänden überhaupt eine räumlich ausreichend groß dimensionierte Unterkunft und der Kläger zu 1. käme in Arbeit - die monatliche Miete für eine Unterkunft nicht langfristig aufbringen könnten. Hinzu käme, dass in diesem Falle auch kein Geld mehr zum Erwerb von Lebensmitteln für die Familie verfügbar wäre. Letzteres würde auch nicht durch das vorhandene Lebensmittelverteilungssystem aufgefangen, da nach den vorliegenden Erkenntnissen Rückkehrern der Zugang zu diesem erheblich erschwert bis unmöglich ist. Unterstützende Sozialleistungen würden die Kläger auch nicht erhalten, da sie nicht anspruchsberechtigt sind. [...]