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VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 21.05.2019 - A 14 K 595/17 - asyl.net: M27812
https://www.asyl.net/rsdb/M27812
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen jungen alleinstehenden sunnitischen Araber aus Mossul:

1. Sunnitischen Arabern droht in Mossul keine Gruppenverfolgung.

2. Kommen jedoch individuelle Umstände hinzu, können diese zusammen mit der Gruppenzugehörigkeit zu einer asylrelevanten Verfolgung führen. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe nicht bei allen Gruppenangehörigen, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung aus, so kann eine "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" vorliegen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011, a.a.O., Rn. 47). 

3. Eine interne Schutzalternative steht ohne familiäres Netzwerk auch nicht in den Kurdischen Autonomiegebieten zur Verfügung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Sunniten, Mossul, Mosul, Islamischer Staat, IS, ISIS, Gruppenverfolgung, Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit, interne Fluchtalternative, Aufstockungsklage, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

a) Zwar ist in Mossul nicht jeder sunnitische Araber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch die irakische Armee, Polizeikräfte oder Milizen der Volksmobilmachungskräfte (Al-Haschd asch-Scha'bi bzw. Popular Mobilization Forces [PMF]) ausgesetzt. [...]

b) In der individuellen Situation des Klägers kommen jedoch weitere Umstände hinzu, die in Verbindung mit der Zugehörigkeit des Klägers zur Gruppe der sunnitischen Araber zur Annahme einer mit beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohenden individuellen Verfolgung führen.

Die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe darf nicht allein deshalb unberücksichtigt bleiben, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" vorliegen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011, a.a.O., Rn. 47).

Der Kläger ist ein alleinstehender männlicher sunnitischer Araber im kampffähigen Alter. Bereits diese Merkmale lassen ihn in den Fokus der Sicherheitskräfte oder PMF-Milizen rücken. Berichten zufolge wird jeder, der unter der Herrschaft des IS gelebt hat, als potentieller Terrorist angesehen (vgl. EASO COI Meeting Report Iraq, a.a.O., S. 13). Der Kläger verfügt zwar noch über Angehörige im Irak. Seine Familie lebt nach seinen glaubhaften Angaben aber als Binnenflüchtlinge in einem Lager an der Stadtgrenze Mossuls. Nach der Auskunftslage sind Binnenflüchtlinge besonders gefährdet. Sie kommen in der Regel häufiger mit Sicherheitskräften in Kontakt und geraten schneller in den Verdacht einer IS-Zugehörigkeit (Danish Immigration Service: Nothern Iraq - Security Situation and the Situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, 05.11.2018, S. 28f.). Im Fall des Klägers kommt hinzu, dass nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung sein Bruder vor kurzem von Sicherheitskräften als vermeintlicher IS-Anhänger verschleppt und aller Wahrscheinlichkeit nach unmenschlich behandelt oder getötet wurde (anschaulicher Bericht zu den Übergriffen der Sicherheitskräfte im Spiegel, "Das sind nicht Helden, sondern Monster", 27.05.2017, abrufbar unter www.spiegel.de/spiegel/anti-is-sondereinheit-im-irak-foltert-vergewaltigt-und-toetet-a-1149000.html). Familienmitglieder von angeblichen oder tatsächlichen IS-Kämpfern geraten häufig selbst in Verdacht und werden - im Sinne einer "Sippenhaft" - zunehmend Opfer von Übergriffen der Sicherheitskräfte (EASO, Targeting Of Individuals, März 2019, S. 25, 39; Danish Immigration Service, a.a.O. S. 29; Auswärtiges Amt, a.a.O, S. 17). Der Kläger hat zudem schlüssig dargelegt, dass auch er von den Sicherheitskräften gesucht wird. Aufgrund dieser Umstände erachtet es das Gericht für beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Mossul als vermeintlicher IS-Anhänger verfolgt werden wird. Zwar hat der Kläger nach seinem Vortrag nie unter der Herrschaft des IS gelebt, sondern ist zunächst in die Kurdische Autonomieregion und nachweislich im Herbst 2015 nach Deutschland ausgereist. Vor dem Hintergrund der ihm individuell drohenden Verfolgung kann er aber nicht in zumutbarer Weise darauf verwiesen werden, dies im Zweifel seinen Angreifern zu erklären.

c) Dem Kläger steht auch kein interner Schutz im Sinne des § 3e AsylG zur Verfügung. Es ist kein hinreichend sicherer Teil seines Herkunftslandes ersichtlich, in den er legal einreisen und sich dauerhaft aufhalten kann. In den vormals vom IS besetzten oder umkämpften Gebieten in den Provinzen Anbar, Salah al-Din, Dyiala, Ninive und Kirkuk besteht für den Kläger eine vergleichbare Verfolgungsgefahr. Auch in Bagdad sind Binnenflüchtlinge aus diesen Gebieten besonders gefährdet, als vermeintliche IS-Anhänger von Sicherheitskräften oder PMF-Milizen verfolgt zu werden. Hinzu kommt, dass die Niederlassung in Bagdad mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist (EASO, Iraq: Internal Mobility, Februar 2019, S. 27ff.). Als hinreichend sicher kann im Fall des Klägers zwar die Kurdische Autonomieregion angesehen werden. Es ist aber unklar, ob der Kläger als alleinstehender sunnitischer Araber ohne familiäre Bindungen dort einreisen kann (EASO, a.a.O., S. 36ff.). Zudem kann im Hinblick auf die große Zahl der Binnenflüchtling (Auswärtiges Amt, a.a.O. S. 20) und die damit verbundene prekäre wirtschaftliche Lage (BFA, a.a.O., S. 114ff.) vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass sich der Kläger, der auch nicht über soziale Anknüpfungspunkte in der Kurdischen Autonomieregion verfügt, dort niederlassen wird. In den mehrheitlich schiitischen Provinzen im Süden ist eine Einreise nur möglich, wenn man dort über familiäre oder sonstige Beziehungen verfügt (EASO, a.a.O., S. 31ff.). Dies trifft auf den Kläger nicht zu. [...]