VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 13.02.2019 - 6 A 1763/17 - asyl.net: M27814
https://www.asyl.net/rsdb/M27814
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Kurden aus dem Irak, der in Deutschland Atheist geworden ist.

Einem nicht vorverfolgt ausgereisten Kurden aus dem Nordirak droht als Atheist im Fall seiner Rückkehr religiöse Verfolgung, da ihm vorgeworfen wird, "ungläubig" zu sein. Feindseligkeiten gegenüber Konvertiten oder Atheisten sind im Irak darüber hinaus weit verbreitet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Apostasie, Atheisten, religiöse Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2
Auszüge:

[...]

Ausweislich der dem Gericht zum Irak vorliegenden Erkenntnismittel besteht für Personen, die sich - wie der Kläger - offen zu ihren atheistischen Anschauungen bekennen, eine besondere Gefahr, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch religiöse Fundamentalisten zu werden (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017).

Nach irakischem Recht besteht keine ausdrückliche Strafandrohung für Menschen, die vom islamischen Glauben abfallen. Ein vom Islam abkehrender Religionswechsel wird jedoch rechtlich nicht anerkannt, so dass auf der Identitätskarte einer konvertierten Person auch nach deren Konversion noch steht, dass sie/er Muslimin/Muslim ist (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 125 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20. Mai 2016 zu Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 1).

Feindseligkeiten gegenüber Konvertiten oder Atheisten sind im Irak darüber hinaus weit verbreitet. Gefahren gehen zum Teil durch Mitarbeiter staatlicher Behörden aus, vor allem aber durch private Dritte, insbesondere religiöse Milizen, welche die im Irak bestehenden Strafgesetze zu Lasten von Atheisten oder Konvertiten auslegen (siehe ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017). Streng gläubige irakische Muslime halten Atheismus für strafrechtlich relevant und berufen sich hierbei auf Art. 372 des irakischen Strafgesetzbuches, in dem das Thema Blasphemie behandelt wird, obgleich unter den aufgelisteten strafbaren Handlungen Apostasie und Atheismus an keiner Stelle erwähnt werden (Humanistischer Pressedienst (HPD), Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak).

Iraks Muslime sind überdies nach wie vor der Scharia untergeordnet, d.h. dem islamischen Recht, welches Apostasie bzw. den Abfall vom islamischen Glauben verbietet. Menschen, die den islamischen Glauben ablegen wollen, sind auf dieser Basis oft ernsthafter Verfolgung durch die Gesellschaft ausgesetzt, oftmals durch Familienangehörige oder Bekannte, welche bis hin zu tödlicher Gewalt reichen kann (BFA, a.a.O., S. 125 f. m.w.N.).

Im Irak dominiert die gesellschaftliche Haltung gegenüber Atheisten, es handele sich bei ihnen um moralisch verdorbene Personen oder Agenten ausländischer Gruppen bzw. Mächte. ACCORD weist zudem darauf hin, dass Politiker islamischer Parteien in Wahlkampfansprachen gezielt gegen Atheisten Stimmung machen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017).

In einem Bericht für den Zeitraum von 2013 bis September 2016 hob das Immigration and Refugee Board of Canada überdies hervor (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available (2013-September 2016)), dass es nach Erkenntnissen der Zeitschrift Al-Monitor zahlreiche irakische Websites für Atheisten gebe. Ihre Mitgliederlisten würden diese jedoch geheim halten aus der Angst heraus, verfolgt oder getötet zu werden, sei es durch extremistische religiöse Milizen oder Gruppen, sei es gar durch einfache Bürger auf der Straße.

Zu den Gefahren offen religionskritischer Äußerungen auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion führt der Humanistische Pressedienst aus (HPD, Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak):

"Das gilt zum Teil auch für die als vergleichsweise tolerant bekannte Autonome Region Kurdistan im Nordirak mit einer eigenen Regionalregierung in Erbil. Sie beansprucht für sich eine noch weitergehend säkularere Ausrichtung, als sie offiziell im übrigen Irak gilt. Und in der Tat werden dort Islam-kritische Diskussionen weniger rigide unterdrückt als anderswo. Religiöse Minderheiten können sich in Kurdistan außerdem erheblich sicherer fühlen als im übrigen Irak und suchen dort auch gezielt Schutz vor dem IS. Gleichzeitig ist besonders in Erbil die Gesellschaft nach wie vor sehr konservativ und erwartet, dass islamische Normen von allen respektiert werden. Auch in den kurdischen Autonomiegebieten ist es daher nicht überall ratsam, sich offen als Atheist zu bekennen."

In seiner Stellungnahme aus September 2016 zitiert das Immigration and Refugee Board of Canada zudem einen kurdischen Journalisten aus Erbil mit den Worten, es sei in Kurdistan einfacher als im Rest des Irak, sich zum Atheismus zu bekennen, was jedoch nicht heiße, dass die Menschen vor Ort diesen Schritt auch akzeptieren würden. Ein Vertreter des Kurdistan Secular Center, einer Einrichtung, welche die Trennung von Staat und Religion propagiere, habe zudem in einem Telefoninterview im August 2016 hervorgehoben, die generelle öffentliche Haltung sei, dass man sich nicht gegen Religionen aussprechen dürfe. Menschen mit säkularen Ansichten hätten generell große Angst davor, öffentlich ihre Ansichten zur Religion kundzutun. Sich öffentlich als Atheist zu bekennen, könne tödlich sein, da die Gefahr bestehe, auf der Straße angegriffen oder von der eigenen Familie verstoßen zu werden. Hiermit korrespondierend habe die kurdisch-irakische Nachrichtenseite Safaq News am 16. Mai 2014 darüber berichtet, dass Atheisten im Irak fürchteten, wegen ihrer Anschauungen getötet zu werden (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available (2013-September 2016)). [...]