VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 22.08.2019 - 4 A 2335/18.A - asyl.net: M27833
https://www.asyl.net/rsdb/M27833
Leitsatz:

Kein subsidiärer Schutz oder Abschiebungsverbot für eine Person aus Afgooye/Somalia ohne individuelle gefahrerhöhende Umstände:

"In Afgooye (Somalia) ist eine Zivilperson, ohne dass gefahrerhöhende Umstände gegeben sind, nicht einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes ausgesetzt (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Somalia, Afgooye, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt, Abschiebungsverbot, gefahrerhöhende Umstände, Madhiban, Minderheitenclan, Shabeellaha Hoose, Lower Shabelle,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 4 Ab.s 1 S. 2 Nr. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

a. Der Kläger ist nicht einer Zwangsrekrutierung durch die al-Shabaab ausgesetzt. Zwar kommt es in Somalia weiterhin zu Rekrutierungen durch die al-Shabaab, doch stellt die Gruppe der zehn bis 15-jährigen das primäre Ziel der Miliz dar, da das junge Alter garantiert, dass die Rekruten noch nicht so sehr zwischen Gut und Böse unterscheiden können (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Somalia, 12. Januar 2018, S. 69). Immer wieder werden Fälle von Zwangsrekrutierungen durch die al-Shabaab bekannt. Es kommt zu Razzien der al-Shabaab in Schulen, Madrassen und Moscheen. Das Ziel ist es, Kinder zu rekrutieren (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Somalia, 12. Januar 2018, S. 71, U.S. Department of State, 3. März 2017, S. 14). Generell kommt es zu Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle der al-Shabaab (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Somalia, 12. Januar 2018, S. 71). Vor dem Hintergrund, dass der Kläger aufgrund seines Alters weder zu der primären Zielgruppe der al-Shabaab gehört und darüber hinaus Afgooye unter der Kontrolle der AMISOM steht (EASO, Country of Origin Information Report, Somalia - Security Situation, 1. Dezember 2017, S. 87 f.; Danish Immigration Service, South an Central Somalia, Security Situation, al-Shabaab Presence, and Target Groups, März 2017, S. 38), ist der Kläger keiner unmittelbaren Bedrohung durch eine Zwangsrekrutierung der al-Shabaab ausgesetzt. [...]

c. Der Umstand, dass der Kläger dem Minderheitenclan der Madhiban angehören will, führt ebenfalls nicht zu einer Zuerkennung des subsidiären Schutzes. Zwar werden Minderheiten wie die Madhiban in Somalia von den Mehrheitsclans geringschätzt und diskriminiert, wobei einzelne Minderheiten unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen leben und sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt sehen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Somalia, 12. Januar 2018, S. 88), doch erreicht dies abgesehen von Einzelfällen nicht generell bei allen Angehörigen eines Minderheitenclans eine solche Schwere, dass dies als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzusehen wäre (Bayerischer VGH, Urteil vom 22. März 2018 - 20 B 17.31709 -, juris Rdnr. 20). Zudem hat sich in den vergangenen Jahren die Situation verbessert (Staatssekretariat für Migration SEM, Schweizerische Eidgenossenschaft, Focus Somalia - Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017, S. 38).

d. Dem Kläger ist der subsidiäre Schutzstatus auch nicht aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in Somalia zuzuerkennen.

Selbst wenn die Gefahr besteht, bei einer Rückkehr nach Somalia wegen schlechter humanitärer Bedingungen zu Schaden zu kommen und unabhängig davon, dass eine solche Gefahr nicht alleine auf generelle Armut oder fehlende staatliche Mittel zurückzuführen ist, sondern überwiegend auf direkte oder indirekte Aktionen der am Konflikt in Somalia beteiligten Akteure zurück geht (OVG Niedersachsen, Urteil vom 5. Dezember 2017 – 4 LB 50/16 –, juris Rdnr. 70; BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rdnr. 25), ist dies gleichwohl für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG nicht ausreichend. Erforderlich ist vielmehr, dass die schlechten humanitären Bedingungen zielgerichtet von einem Akteur gemäß § 3c AsylG hervorgerufen oder jedenfalls wesentlich verstärkt werden (BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 –, juris Rdnr. 13; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17 –, juris Rdnr. 54 ff., insbesondere Rdnr. 77 bis 79). Dass die gegenwärtigen humanitären Bedingungen in Somalia bewusst von einer der an dem Konflikt beteiligten Parteien bzw. einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG hervorgerufen oder gefördert worden wären, lässt sich nicht feststellen.

3. Ein Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus resultiert auch nicht draus, dass er als Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt wäre. [...]

Ob in diesem Zusammenhang in der Herkunftsregion des Klägers - Shabeellaha Hoose/Lower Shabelle - ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht, kann dahinstehen, da der Kläger als Zivilperson aufgrund der gegenwärtigen Konfliktlage jedenfalls keiner ernsthaften, individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt ist. [...]

a. Für die Heimatregion des Klägers - Shabeellaha Hoose/Lower Shabelle, der Region, in der Afgooye liegt - lässt sich kein derart hohes Niveau willkürlicher Gewalt feststellen, welches - ohne individuelle gefahrerhöhende Umstände - zu einer Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen würde. Für die individuelle Betroffenheit bedarf es einer Feststellung der Gefahrendichte, welche jedenfalls auch annäherungsweise eine quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos umfasst. Das Bundesverwaltungsgericht sieht ein Risiko von 1:800, in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden, als so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt an, dass auch eine wertende Gesamtbetrachtung am Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nichts zu ändern vermag (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 -, juris Rdnr. 22 f.; Bayerischer VGH, Urteil vom 27. März 2018 - 20 B 17.31663 -, juris Rdnr. 27).

Eine genaue Bewertung der Situation in Somalia und insbesondere in Shabeellaha Hoose/Lower Shabelle ist kaum möglich. Es mangelt sowohl an verlässlichen Angaben über die gegenwärtige Einwohnerzahl als auch an Quellen, welche die aktuellen Opferzahlen aufgeschlüsselt nach Verletzten und Getöteten einerseits sowie differenziert nach Zivilpersonen und Soldaten bzw. Kämpfenden andererseits wiedergeben. In der Konsequenz ist es lediglich möglich, aus den zur Verfügung stehenden einzelnen Erkenntnissen ein Gesamtbild der Lage in Shabeellaha Hosse/Lower Shabelle zu erstellen. [...]

In der gesamten Region Shabellaha Hoose/Lower Shabelle kam es im Jahr 2017 zu 699 Vorfällen mit 1.225 Todesopfern (Austrian Center for Country of Origin & Asylum Research and Documantation [ACCORD]: Somalia, Jahr 2017, Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), 18. Juni 2018). Setzt man die Zahl von 1.225 Todesopfern ins Verhältnis zur Einwohnerzahl in Shabellaha Hoose/Lower Shabelle im Jahre 2017, so ergibt sich daraus ein Tötungsrisiko für den einzelnen Einwohner von 1:1.066.

Eine genaue Berechnung des Verletzungsrisikos ist mangels entsprechender Erkenntnisse nicht möglich (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 27. März 2018 - 20 B 17.31663 -, juris Rdnr. 35), so dass lediglich ein Vergleich mit anderen Konfliktgebieten, in denen es ähnliche Auseinandersetzungen zwischen regierungstreuen Truppen einerseits sowie Gruppierungen, welche sich teils in offenen Kämpfen, teils in Anschlägen gegen den Staat richten, andererseits, ein ungefähres Bild des Verletzungsrisikos zu vermitteln vermag. Betrachtet man beispielsweise die Zahlen von Toten und Verletzten in dem Konflikt in Afghanistan, so ergibt sich, dass es im Jahr 2018 zu 3.804 Toten und 7.189 Verletzten, im Jahr 2017 zu 3.440 Toten und 7.019 Verletzten, im Jahr 2016 zu 3.527 Toten und 7.925 Verletzten, im Jahr 2015 zu 3.565 Toten und 7.470 Verletzten sowie im Jahr 2014 zu 3.701 Toten und 6.834 Verletzten kam (United Nations Human Rights, Office of the High Commissioner, Afghanistan - Protections of Civilians in Armed Conflicts, Anual Report 2018, Februar 2019, S. 1). Über die Jahre 2014 bis 2018 betrachtet forderte der Konflikt in Afghanistan demnach 18.037 Todesopfer und 36.437 Verletzte. Setzt man die Zahlen der Todesopfer und der Verletzten ins Verhältnis, so kommen auf jede in dem Konflikt getötete Person 2,02 Verletzte. Nimmt man dieses Verhältnis auch für den Konflikt in Somalia an, bedeutet dies für die Herkunftsregion des Klägers, dass es neben den 1.225 Todesopfern zu 2.475 Verletzten gekommen ist, so dass der Konflikt insgesamt 3.700 Opfer forderte. [...]