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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 15.01.2019 - 1 C 29.18 - asyl.net: M27835
https://www.asyl.net/rsdb/M27835
Leitsatz:

"Verbleib" im Aussiedlungsgebiet im Regelfall nur bei durchgängig (deutlich) überwiegend tatsächlichem Aufenthalt:

1. Die nachträgliche Einbeziehung eines Ehegatten oder Abkömmlings in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers nach § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG setzt voraus, dass sich der einzubeziehende Familienangehörige im Regelfall auch tatsächlich durchgängig (deutlich) überwiegend im Aussiedlungsgebiet aufgehalten hat; allein ein durchgängiger - gegebenenfalls zweiter - Wohnsitz reicht nicht aus (Fortführung von BVerwG, Urteil vom 27. September 2016 - 1 C 19.15 - BVerwGE 156, 171).

2. Kürzere Besuchsaufenthalte im Aussiedlungsgebiet begründen einen Ausnahmefall bei einem volljährigen Familienangehörigen auch dann nicht, wenn der Fortbestand eines dortigen Wohnsitzes sowie dortiger familiärer Bindungen unterstellt werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Spätaussiedler, Familienangehörige, Aufnahmebescheid, Aussiedlungsgebiet, Einbeziehung, Wohnsitz, überwiegender Aufenthalt,
Normen: BVFG § 27 Abs. 2 S. 3
Auszüge:

[...]

11 1.1 Ein Verbleiben im Aussiedlungsgebiet erfordert ein - seit der Ausreise der Bezugsperson - ununterbrochenes, d.h. kontinuierliches Verbleiben; dies setzt zumindest voraus, dass der  einzubeziehende Familienangehörige eines Spätaussiedlers auch seinen Wohnsitz seit der Aussiedlung des Spätaussiedlers ununterbrochen im Aussiedlungsgebiet gehabt haben muss (BVerwG, Urteile vom  27. September 2016 - 1 C 19.15 - BVerwGE 156, 171 Rn. 11 ff., - 1 C 20.15 - juris Rn. 18 ff. und - 1 C 21.15 - juris Rn. 15 f.). Für die Anwendung des § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG reicht allein ein durchgängiger - gegebenenfalls zweiter - Wohnsitz allerdings nicht aus. Der einzubeziehende Ehegatte oder  Abkömmling des Spätaussiedlers muss sich im Regelfall vielmehr auch tatsächlich durchgängig (deutlich) überwiegend im Aussiedlungsgebiet aufgehalten haben.

12 a) § 27 Abs. 2 Satz 1 und 3 BVFG stellen für die Einbeziehung darauf ab, ob der Ehegatte oder Abkömmling des Aussiedlers im Aussiedlungsgebiet lebt bzw. 10 dort verblieben ist. Dies ist bei Personen mit nur einem Wohnsitz und ohne längere Auslandsaufenthalte regelmäßig der Fall, wenn dort der Wohnsitz (fort)besteht. Entscheidend ist aber bereits nach dem insoweit klaren Wortlaut der durchgängig auch tatsächliche Aufenthalt bzw. Verbleib im Aussiedlungsgebiet.

13 Der Begriff des "Verbleibens" lässt sich am ehesten als an einem Ort zurückbleiben und dort ausharren verstehen (BVerwG, Urteil vom 27. September 2016 - 1 C 19.15 - BVerwGE 156, 171 Rn. 12). Dies setzt sprachlich neben einem kontinuierlichen auch einen tatsächlichen (deutlich überwiegenden) Aufenthalt im Aussiedlungsgebiet voraus. Dem genügt nicht ein nur gelegentlicher, zeitlich begrenzter Aufenthalt in den Aussiedlungsgebieten, etwa zu Besuchszwecken oder zur Pflege familiärer Beziehungen.

14 Mit diesem grammatischen Verständnis nicht vereinbar ist, dass das Berufungsgericht tragend auf den Fortbestand allein eines Wohnsitzes abgestellt und auf der Grundlage des Wohnsitzbegriffs des § 7 BGB, dem der Begriff "Wohnsitz" im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes entspricht (BVerwG, Urteile vom 29. Mai 1957 - 5 C 407.56 - BVerwGE 5, 110 <112>, vom 29. August 1967 - 3 C 158.64 - Buchholz 427.3 § 11 LAG Nr. 39 S. 108 und vom 27. Juni 1989 - 9 C 6.89 - BVerwGE 82, 177 <179>; Beschluss vom 19. Juni 2013 - 5 B 87.12 - juris Rn. 4), dessen Fortbestand bejaht hat. Das in § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG geforderte Verbleiben in den Aussiedlungsgebieten ist gerade nicht gleichbedeutend mit einem fortdauernden Wohnsitz.

15 b) Ein systematischer Vergleich von § 27 Abs. 2 BVFG mit § 27 Abs. 1 BVFG bestätigt, dass der Begriff des Verbleibens in § 27 Abs. 2 BVFG nicht mit dem u.a. in § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG geforderten "Wohnsitz" in den Aussiedlungsgebieten gleichbedeutend ist. Durch die Verwendung unterschiedlicher Begriffe hat der Gesetzgeber unterstrichen, dass für die Anwendung des § 27 Abs. 2 BVFG gerade nicht auf den Wohnsitz, sondern auf den tatsächlichen Aufenthalt abzustellen ist.

16 Die Richtigkeit einer vom Wohnsitzbegriff abweichenden Auslegung des Begriffs des "Verbleibens", die maßgeblich auf den tatsächlichen Aufenthalt abstellt, belegt auch der systematische Vergleich mit § 27 Abs. 2 Satz 1 BVFG. Nach dieser Vorschrift kann der "im Aussiedlungsgebiet lebende Ehegatte" oder der "im Aussiedlungsgebiet lebende Abkömmling" in den Aufnahmebescheid einbezogen werden. In einem Gebiet "leben" bedeutet weit mehr als nur gelegentliche Aufenthalte, etwa im Rahmen von Besuchen (s.a. Herzog/Westphal, Bundesvertriebenengesetz, 2. Aufl. 2014, § 27 BVFG Rn. 14). Erforderlich ist regelmäßig eine durch deutlich überwiegende Ortsanwesenheit nach außen dokumentierte und in diesem Sinne "gelebte" Verbindung mit dem Aussiedlungsgebiet, die jedenfalls einem (durchgängigen) gewöhnlichen Aufenthalt entspricht. Nach dem systematischen Zusammenhang und der identischen Zielrichtung beider Normen ist "Verbleib" im Aussiedlungsgebiet die Fortsetzung des "Lebens" dort (nur eben ohne den bereits übergesiedelten Spätaussiedler); das Verbleibenserfordernis, das zudem die Übersiedlung als Trennungsgrund betont, ändert aber nichts an der erforderlichen Intensität der Bindungen an das Aussiedlungsgebiet und unterstreicht, dass neben der gemeinsamen Aussiedlung (§ 27 Abs. 2 Satz 1 BVFG) auch die nachträgliche Aussiedlung zur Bezugsperson möglich sein soll. Diese - seit dem 10. BVFG-Änderungsgesetz von einer Härte unabhängige - Erweiterung der Einbeziehungsmöglichkeit in zeitlicher Hinsicht senkt aber nicht im Verhältnis zu § 27 Abs. 2 Satz 1 BVFG die sachlichen Anforderungen an das "Leben" im Aussiedlungsgebiet als Einbeziehungsvoraussetzung ab. Das erklärte Ziel des Gesetzgebers, dem Ehegatten oder Abkömmling "für die Zukunft keine Nachteile" (BT-Drs. 17/13937 S. 7) aufzubürden, bezweckte ersichtlich keine Besserstellung gegenüber der Einbeziehung zum Zweck der gemeinsamen Ausreise.

17 c) Soweit die Entstehungsgeschichte der Regelung über die (nachträgliche) Einbeziehung von Ehegatten und Abkömmlingen Rückschlüsse zulässt, weist auch sie darauf, dass für die Einbeziehung regelmäßig neben dem durchgängigen auch ein deutlich überwiegender tatsächlicher Aufenthalt erforderlich ist.

18 (a) Der Gesetzgeber hat den Begriff des "Verbleibens" vorausgesetzt, ohne ihn legal zu definieren oder seine Bedeutung in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich näher zu bestimmen. Nach dem Verwendungszusammenhang ist er zu beziehen auf den Zweck, Familientrennungen zu beseitigen, die durch die Aussiedlung des Spätaussiedlers - und nicht aus sonstigen, beliebigen Gründen - eingetreten sind (BVerwG, Urteil vom 27. September 2016 - 1 C 19.15 - BVerwGE 156, 171 Rn. 20). Bereits die im geltenden Recht nunmehr in § 27 Abs. 2 Satz 1 BVFG getroffene Regelung zielte auf die Sicherung der Familieneinheit auch im Falle der Aussiedlung - durch gemeinsame Aussiedlung -, um so möglichen Härten durch die Aussiedlung zu begegnen. Mit der Einfügung des heutigen § 27 Abs. 2 Satz 3 BVFG wollte der Gesetzgeber denjenigen, denen eine gemeinsame Ausreise nicht möglich war, "für die Zukunft keine Nachteile mehr" (BT-Drs. 17/13937 S. 7) aufbürden. Dem Gesetzgeber, der auch sonst der familiären Anbindung besonderes Gewicht beimisst (§ 1 Abs. 1 Satz 3 BVFG), ging es auch hierbei allein um die Beseitigung aussiedlungsbedingter Familientrennungen. Für die Schaffung eines umfassenden vertriebenenrechtlichen Familiennachzugsregimes neben den aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen zum Familiennachzug zu Deutschen (§ 28 AufenthG) fehlt jeder Anhalt. Ist das gemeinsame Familienleben (auch oder vorrangig) aus anderen, von der Aussiedlung unabhängigen Gründen (nachträglich) tatsächlich entfallen, so entfällt auch ungeachtet fortbestehender familienrechtlicher Bindungen der rechtfertigende Grund für eine Einbeziehung des Ehegatten oder der Abkömmlinge. Dies bestätigt, dass - selbst bei unterstellt rechtlich fortbestehendem Wohnsitz - eine nachträgliche Aufnahme in den Aufnahmebescheid in aller Regel auszuscheiden hat, wenn ein Abkömmling nicht mehr im Aussiedlungsgebiet "lebt", sich also nicht (deutlich überwiegend) dort, sondern - aus welchen Gründen auch immer - tatsächlich außerhalb dieser Gebiete aufhält. Dabei kann für den vorliegenden Fall offen bleiben, in welchem Umfange kurzfristige Aufenthalte außerhalb des Aufnahmegebiets, etwa zu Besuchs- oder Urlaubszwecken bzw. für Saison- oder Montagearbeiten, für einen Verbleib unerheblich sind. Jedenfalls bedarf es nicht eines Willens, auch einen etwa fortbestehenden (weiteren) Wohnsitz aufzugeben. [...]

23 (c) Nur eine Auslegung, die auf den tatsächlich (deutlich überwiegenden) durchgängigen Aufenthalt im Aussiedlungsgebiet abstellt, entspricht auch dem Sinn und Zweck der durch das 10. BVFG-Änderungsgesetz neugefassten Regelung des Anspruchs auf nachträgliche Einbeziehung von Familienangehörigen. Beabsichtigt war die - möglichst umfangreiche - Beseitigung von heute noch fortdauernden aussiedlungsbedingten Familientrennungen im Rahmen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen (BVerwG, Urteil vom 27. September 2016 - 1 C 19.15 - BVerwGE 156, 171 Rn. 24). Damit unvereinbar ist eine Erstreckung auch auf Fälle, in denen die Familientrennung nicht nur in der Aussiedlung der Bezugsperson ihre Grundlage findet, sondern im Wegzug des Ehegatten oder Angehörigen. Das Vertriebenenrecht mit seinen weitreichenden, auch staatsangehörigkeitsrechtlichen Rechtsfolgen (s. § 15 Abs. 2 i.V.m. § 7 BVFG) erfasst erkennbar nur den direkten Zuzug aus den Aussiedlungsgebieten. Weitere Fälle des Nachzuges zu Familienangehörigen sind nach allgemeinem Aufenthaltsrecht (§ 27 AufenthG) zu beurteilen. [...]