VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 05.06.2018 - 25 K 327.17 A - asyl.net: M27845
https://www.asyl.net/rsdb/M27845
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Iraker wegen seiner Homosexualität:

Homosexuelle Männer stellen im Irak eine soziale Gruppe dar, die jedenfalls von nicht-staatlichen Akteuren - wie den schiitischen Milizen, den Sharia-Gerichten oder den Stammesführern - verfolgt werden.

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Irak, homosexuell, LSBTI, LGBTIQ, nichtstaatliche Verfolgung, Strafbarkeit,
Normen: § 3 AsylG, § 3a AsylG, § 3b AsylG, § 3c AsylG, § 3d AsylG, § 3e AsylG,
Auszüge:

[...]

12 Die zulässige Klage ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig. Er verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

17 Der Einzelrichter ist nach der Würdigung aller Umstände davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist. Sein Vortrag war überzeugend. Er konnte anschaulich beschreiben, wie er bislang in Bagdad mit seiner Neigung gelebt hat. Er berichtete von seiner ersten homosexuellen Beziehung während seiner Schulzeit und von weiteren Kontakten mit anderen Männern im Irak. Seine Schilderungen hierzu waren ausführlich und detailliert. Sie wirkten lebensnah und nicht ausgedacht. Ebenso konnte der Kläger auch auf die Fragen des Einzelrichters schlüssig antworten. Darüber hinaus konnte er den inneren Konflikt verständlich beschreiben, den er all die Jahre wegen seiner Homosexualität gehabt hatte und mit welchen Problemen er deswegen auch in der Familie konfrontiert gewesen war. Seine Ausführungen waren auch hierzu detailreich und widerspruchsfrei. Der Kläger konnte zur Überzeugung des Gerichts etwa schildern, wie seine zweite Ehefrau zum ersten Mal von seiner sexuellen Orientierung erfahren hat und welche Konflikte er deshalb mit ihr hatte. Dabei sprach es insoweit nicht gegen den Kläger, dass er im Irak bereits zwei Mal verheiratet war und auch dort Kinder hat. [...]

18 Homosexuelle im Irak sind eine soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. [...]

19 [...] Sie haben eine gemeinsame unveränderliche Eigenschaft und teilen eine eindeutige Identität. Man kann von ihnen auch nicht abverlangen, ihre Neigung zu unterdrücken bzw. geheim zu halten. Von einem Homosexuellen ist insoweit auch nicht mehr Zurückhaltung als von einem Heterosexuellen abzuverlangen (vgl. EuGH, Urteil vom 07. November 2013 – C-199/12 bis C-201/12 –, juris). Die irakische Gesellschaft nimmt Homosexuelle als andersartig war. Sie diskriminiert sie und grenzt sie sozial aus (Auswärtiges Amt, Lagebericht, 12. Februar 2018, S. 14; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, 13. März 2018, S. 2). [...]

21 Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger als Homosexueller im Irak verfolgt werden würde, und zwar unabhängig von seinem weiteren Vorbringen, er habe aufgrund seiner sexuellen Orientierung auf einer Todesliste gestanden. Im Irak sind Homosexuelle betroffen von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die gem. § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (vgl. insoweit für auch westlich geprägte Afghaninnen: OVG Lüneburg, Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 –, juris Rn. 31; wohl von einem Nachfluchtgrund für Homosexuelle im Irak ausgehend: VG Ansbach, Urteil vom 31. Januar 2018 – AN 10 K 17.31735 –, juris Rn. 26). Insbesondere droht ihnen physische oder psychische Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG). Dies ergibt sich aus den gerichtlichen Erkenntnissen:

22 Das irakische Strafgesetzbuch stellt im gegenseitigen Einvernehmen durchgeführte homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Personen nicht mehr unter Strafe (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, 12. Februar 2018, S. 15). Allerdings verbietet Art. 394 des irakischen Strafgesetzbuches außereheliche Sexualkontakte mit Frauen (vgl. Irakisches Strafgesetzbuch Nr. 111 von 1969 idF vom 14. März 2010). Gleichgeschlechtliche Sexualbeziehungen sollen auch hiervon erfasst sein, weil das Gesetz im Irak gleichgeschlechtliche Ehen nicht vorsieht (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 31. Januar 2018 – AN 10 K 17.31735 –, juris Rn. 14 unter Bezugnahme auf eine für das Verfahren eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 9. November 2017, siehe ebenso: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24. August 2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 18. Mai 2018, S. 144). [...] Auf der Ebene des Stammesrechts können  Stämme Mitglieder aus ihrem eigenen Stamm töten, wenn sie ein sog. schwarzes Verbrechen (as-souda) begehen – wie etwa homosexuelle Handlungen (vgl. UNCHR, Tribal Conflict Resolution in Iraq, 15. Januar 2018, S. 2 Fußnote Nr. 9 m.w.N.). Scharia-Richter sollen bekannt dafür sein, Hinrichtungen von Männern und Frauen aufgrund von gleichgeschlechtlichen Beziehungen anzuordnen, obwohl das irakische Rechtssystem nicht an Entscheidungen der Scharia-Gerichte gebunden ist (vgl. Accord, Lage von LGBTI-Personen, 9. Februar 2017, S. 3 m.w.N.). Große Teile der Bevölkerung lehnen Homosexualität als unvereinbar mit Religion und Kultur ab. Es besteht ein hohes Risiko sozialer Ächtung bis hin zu Ehrenmorden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12. Februar 2018, S. 14). [...] Während den Jahren 2003 bis 2009 sollen im Irak zwischen 480 und 680 Homosexuelle getötet worden sein (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Gefährdung von Homosexuellen – Sexuelle Übergriffe, 9. November 2009, S. 1-2). Das Erstarken nichtstaatlicher bewaffneter Akteure (zum Hintergrund: SWP, Die »Volksmobilisierung« im Irak, August 2016) soll die Schutzbedürftigkeit von Personen noch verstärkt haben, deren sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität nicht den traditionellen Vorstellungen entsprechen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24. August 2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 18. Mai 2018, S. 145 m.w.N.). [...] Schließlich sind auch in der Region Kurdistan-Irak keine Fälle von Personen bekannt, die nach ihrem Outing hier weitergelebt haben. Es kommt es zu Gewalt gegen LGBT und es finden "Hexenjagden" auf diese Personengruppen statt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, 13. März 2018, S. 3).

23 Vor diesem Hintergrund geht die Verfolgung jedenfalls von nichtstaatlichen Akteuren i.S.v. § 3c Nr. 3 AsylG aus – wie etwa den schiitischen Milizen (vgl. Finnish Immigration Service, Security Situation in Baghdad, 29. April 2015, S. 20, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24. August 2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 18. Mai 2018, S. 145 m.w.N.; Counter Extremism Project, Asaib Ahl al-Haq, 2017, S. 19), den Sharia-Gerichten (vgl. Accord, Lage von LGBTI-Personen, 9. Februar 2017, S. 3) oder den Stammesführern (vgl. UNCHR, Tribal Conflict Resolution in Iraq, 15. Januar 2018, S. 2 Fußnote Nr. 9 m.w.N.).

24 Die in § 3 Nr. 1 AsylG (Staat) und Nr. 2 AsylG (Parteien oder Organisationen) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen sind nicht willens oder in der Lage, Schutz iSd § 3d AsylG vor Verfolgung zu bieten (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Gefährdung von Homosexuellen – Sexuelle Übergriffe, 9. November 2009, S. 3). [...]

25 Für den Kläger besteht im Irak keine innerstaatliche Fluchtalternative. [...]